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Polen: Leben wie die Wikinger
Nordpolen: Auf den Spuren mittelalterlicher Völker im Woliner Wikingerdorf
Beharrlich schiebt die Oder ihre Wassermassen durchs Stettiner Haff. Am Ende drängen sie in aller Ruhe durch drei Seegatts in die Ostsee. Einer dieser Mündungsarme ist die Dziwna (Dievenow). Durch sie entsteht Wolin, die größte Insel Polens. Vor ihrer gleichnamigen Stadt schlummert Wolińska Kępa, ein schilfumrahmtes Fluss-Eiland, das kaum vier Fußballfelder misst. Das Bild mit Blick zur Altstadt prägen bislang 27 Häuser, Stadttor, Zäune, Kultobjekte und ein Schiffsanleger – anhand von umfangreichen Ausgrabungen mit Originalmethoden, -material und nachgebautem Werkzeug rekonstruiert.
Ob man zu Fuß herkommt, per Fahrrad oder Auto: Man landet hier im Mittelalter. Denn die wiedererstehende Stadt lebt wie ihre zeitweiligen Einwohner in etwa so wie vor eintausend Jahren, als die Ostsee noch unmittelbar vor ihren Toren rauschte. »Das Centrum Słowian i Wikingów (Slawen- und Wikingerzentrum) ist ein Labor experimenteller Archäologie und lebendiges Freilichtmuseum«, erklärt dessen Chef Wojciech Celiński. Dafür würde neben Wissenschaftlern und Angestellten vor allem die Mitglieder des Fördervereins sorgen.
- Anreise: Mit ÖPNV derzeit schwierig und recht zeitaufwendig mit häufigem Umsteigen (von Berlin mit Zug und Bus über Angermünde und Stettin ca. 5 h), mit dem Auto (230 km) knapp 3 h.
- Übernachten: Einfache Gästezimmer im Hauptgebäude mit Gasthaus sowie komplette Holzhäuschen mit je sechs Betten am Rande des Museumsdorfes vermietet dessen Verein unter
www.jomsborg-vineta.com - Freilichtmuseum: Das Centrum Słowian i Wikingów w Wolinie ist von Anfang April bis Ende Oktober täglich 10–16 Uhr geöffnet, im Juli und August bis 18 Uhr. Eintritt 20 PLN/ca. 4,40 €. wolinwsieci.jomsborg-vineta.com
- Termine: Das nächste Slawen-und-Wikinger-Festival in Wolin findet vom 31.7. bis zum 4.8.2024 statt. Für Besucher kostet die Tageskarte 30 PLN/ca. 6,60 €.
- Auskunft: polen.travel, gminawolin.pl
- Literatur: Vom Autor dieses Textes liegt ein schönes Buch über Wander- und Radwege der Region vor: Carsten Heinke. Nordpolen – 56 Tipps abseits der ausgetretenen Pfade. 360° medien, Mettmann, 296 S., 16,95 Euro.
Oft verbringen sie freie Tage und ganze Urlaube, indem sie unsere Stadt als Handwerker und Krieger, Bauern oder Fischer bevölkern. Dabei tragen sie selbst gefertigte Kleidung, arbeiten und ernähren sich, musizieren, feiern und kämpfen im Stil des neunten oder zehnten Jahrhunderts und gestalten so Geschichte zum Anfassen und Miterleben : »Als alte Slawen oder Wikinger«, berichtet der 61-Jährige, den hier alle Wojtek nennen. Selbst mit dabei war der Ex-Feuerwehrmann von Anfang an.
Das versunkene Vineta?
Die historische Hafen- und Handelsstadt, die der Inselort repräsentiert, wurde von Slawen, Wikingern und anderen Ethnien bewohnt. Mit mindestens 8000 Einwohnern und einer Ausdehnung von bis zu fünf Kilometern war sie im zehnten Jahrhundert die größte und bedeutendste im gesamten Ostseeraum. Oft widerlegt und durch neue Ausgrabungen und Erkenntnisse immer wieder untermauert, wurde die Vermutung, es könne sich bei Wolin um das legendäre Julin oder Jumne oder gar das »versunkene« Vineta handeln. Diese mittelalterliche Stadt rund um die Festung Jomsburg soll von dem sagenumwobenen Söldnerbund der Jomswikinger gegründet worden sein.
Angestoßen wurde das heutige Projekt von einem Fest, das Dänen 1993 hier am Schauplatz polnisch-skandinavischer Geschichte inszenierten. Nachdem einige weitere solcher Feste unter polnischer Organisation stattgefunden hatten, wurde 2003 der Trägerverein des Slawen- und Wikingerzentrums gegründet und die ersten Holzbauten errichtet. »Aufgrund seiner Funde hatte der Archäologe und Leiter des Nationalmuseums in Stettin, Professor Władysław Filipowiak (1926–2014), die Entwürfe dazu geliefert«, so Celiński.
Vier Jahre später öffnete das Freilichtmuseum. Die meisten seiner Besucher lockt seither das Festival in jeder ersten Woche im August. »25 000 kamen in diesem Jahr, ebenso knapp 3000 Teilnehmer aus 32 Ländern«, weiß der Leiter. 2023 stand die fünftägige Veranstaltung ganz im Zeichen des Wikingerkönigs Harald Blauzahn und dessen Epoche.
Mittelalter live
Die Zeitreise beginnt gleich nach der Brücke. Wer nicht nur als Besucher kommt, wechselt auf dem Parkplatz seine Kleidung und Identität. Facharbeiter, Ingenieurinnen, IT-ler, Pflegekräfte und Beamte tauschen ihr modernes Outfit gegen grobe Leinen-, Woll- und Ledersachen, verwandeln sich im Nu in Krieger, Weberinnen, Töpferinnen, Schmiede. Hinter dem Stadttor, das aus Baumstämmen gezimmert ist, sind sie bereits ein Teil von der Geschichte, die man hier live erleben kann – besonders intensiv beim Festival.
»Jungs, ich brauche Brennholz«, ruft Agnieszka Zawało mit rauer Stimme ihren Knechten zu und rührt klappernd in zwei dampfend heißen Eisentöpfen, unter denen Feuer lodert. Die kleine Frau in dem blau-roten Kittelkleid trägt straffe Zöpfe. Wie Peitschen hängen sie ihr vom sonst glattrasierten, tätowierten Kopf. »Das wird Sauerkraut mit Räucherfleisch und Hirsebrei und das dort Milchsuppe mit Liebstöckel«, kommentiert die Hobbyköchin, die zum neunten Mal aus Łódź in das Museumsdorf gekommen ist. Ihre Freizeit widmet die hauptamtliche Stukkateurin mittelalterlicher Kochkunst: »Ich forsche nach Rezepten dieser Zeit und rekonstruiere sie.«
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Der Gästeandrang vor Agnieszkas Stand spricht für sich. Doch zur Mittagszeit ist jedes Essenangebot gefragt. Überall wird jetzt gekocht, gebrutzelt und gebacken. Bald nehmen die Warteschlangen vor den Töpfen deutlich ab. Denn viele strömen jetzt vors Tor, wo sich Wikinger und Slawen gleich mit stumpfen Äxten, Schwertern oder Speeren hauen – bei einer sogenannten Huscarl-Schlacht.
Dieses Kampfsystem wirkt realistisch, schützt jedoch die Teilnehmenden durch strenge Regeln vor Verletzungen. Um das zu sehen, ist das deutsche Paar Franzi und Tom extra aus Schleswig-Holstein angereist. »In Neustadt-Glewe in Mecklenburg-Vorpommern schauen wir uns jedes Jahr den mit 300 Mann größten derartigen Schaukampf Deutschlands an. Hier ist die Schlacht deutlich massiver und beeindruckender«, so der Lübecker. Auch das breite Sortiment an Handwerksarbeiten trifft seinen Geschmack.
Da wird getöpfert und geschmiedet, werden Schmuck und Kleidung hergestellt oder – wie von Karsten aus Berlin – Bronzegussarbeiten. Der 51-Jährige, der seit 2006 zusammen mit Kollegen aus dem Museumsdorf Düppel nach Wolin kommt, mag dieses Festival, »weil sich hier alles trifft«. »Das Publikum ist international, alle Teilnehmer sind Enthusiasten«, sagt er begeistert.
In der Leidenschaft, mit der man in Wolin Geschichte pflegt, sieht Professor Jakub Morawiec enormen Nutzen für die Forschung. Der polnische Historiker begleitet die Museumsstadt seit Langem wissenschaftlich. »Sie ist ein hervorragendes Labor, weil sie uns zeigt, wie es gewesen sein könnte.« Und ganz gleich, ob es um Kampftechnik und Waffen, Schiffsbau, Navigation, Handwerk oder alltägliche Verrichtungen gehe: »Interessanter als das praktische Ergebnis ist es stets, den Prozess der Lösungssuche zu beobachten und so zu helfen, die Geschichte zu verstehen.«
International wie sonst nirgendwo
Dazu gehöre immer wieder auch der Blick über den Tellerrand. Nicht zuletzt hätten internationale Kontakte für das Gedeihen der mittelalterlichen multikulturellen Stadt gesorgt. »Beim Festival ist das genauso«, findet Morawiec.
Austėja Luchtanaitė und ihre neun Gefährten aus der archäologischen Stätte Kernavė in Litauen repräsentieren das baltische Volk der Kurländer, das eng mit den Wikingern verwoben ist. Nach über zehn Jahren Wolin-Erfahrung meint die junge Litauerin: »Es ist vielleicht nicht das allergrößte Event dieser Art, aber sicher das mit den vielseitigsten Akteuren. In Dänemark und Island hast du hauptsächlich Skandinavier und Deutsche. Nach Wolin kommen aber auch Wikinger aus Bulgarien, Chile und Brasilien. Es liegt wie schon zu seiner Blütezeit zwischen Ost und West«, urteilt Austėja.
Von den vielen Leuten hier kenne sie einige seit ihrer Kindheit, als sie mit ihrem Vater herkam. »Doch jedes Mal gibt es neue Teilnehmer. Du erkennst sie daran, wie geschockt sie wirken, wenn sie sehen, was es hier alles gibt.« Und dann erzählt sie noch, dass man abends »diplomatische Missionen« habe: »Dann geht Litauen etwa zu Schweden oder Deutschland. Man tauscht Neuigkeiten aus, isst, trinkt, tanzt und singt, manchmal die ganze Nacht durch.« Einmal habe es danach Beschwerden gegeben: »Oh, haben wir zu laut gesungen, fragte ich. Nein, zu früh aufgehört, war die Antwort. Und jemand anders wollte wissen, wo man singende Litauer kaufen kann.«
Die Recherche wurde unterstützt vom Polnischen Fremdenverkehrsamt in Berlin.
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