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Polizeisprecher Martin: »Wir können nicht die Welt retten«
Thüringens Polizeisprecher Patrick Martin erklärt, warum die Beamten auf Proteste von Landwirten und Letzter Generation unterschiedlich reagieren
Herr Martin, gleich hier um die Ecke gibt es einen Kreisverkehr. Wenn ich mir fünf Freunde suche und wir diesen Kreisel mit unseren Autos blockieren, wie reagiert die Polizei?
Dann werden Sie höchstwahrscheinlich erst einmal angesprochen von uns. Wir würden schon gerne wissen, was Sie da tun.
Und wenn ich sage, dass ich hier gerade eine Versammlung durchführe, weil ich mit irgendetwas unzufrieden bin? Vielleicht habe ich ja sogar ein Schild im Kofferraum.
Viel ist in den vergangenen Wochen darüber gestritten worden, ob die Polizei gegenüber unangemeldeten Bauernblockaden nachsichtiger war als gegenüber den Aktionen der Klimaaktivisten der Letzten Generation. Patrick Martin, Sprecher der obersten Polizeibehörde in Thüringen, der Landespolizeidirektion, erklärt, warum die Beamten so gehandelt haben.
Wenn Sie ein Schild dabei hätten, dann könnten Sie schon einmal nicht mehr geltend machen, dass Sie eine Spontanversammlung durchführen. Denn indem Sie ein Schild gemalt und eingepackt hätten, hätten wir schon eine Vorbereitungshandlung für eine Versammlung. Also hätten Sie diese Versammlung vorher anmelden müssen. Dann wüssten wir auch davon und müssten Sie nicht fragen, was die da treiben.
Okay, dann habe ich kein Schild im Kofferraum.
Sollten Sie sich wirklich spontan, ohne Schild versammelt haben, müssten Sie dann – wie bei einer angemeldeten Versammlung auch – einen Versammlungsleiter und Ordner benennen. Wichtig wäre auch, dass sie konkret sagen, was Sie eigentlich umtreibt, was die Botschaft ist, die Sie mit dieser Versammlung ausdrücken wollen. Wenn Sie das alles tun, bekommen Sie eine Auflage, zum Beispiel zum zeitlichen Ablauf, und dann können Sie Ihre Versammlung durchführen.
Und was, wenn ich keinen Versammlungsleiter, keine Ordner benenne?
Dann kann es sein, dass wir Ihre Zusammenkunft ganz schnell auflösen müssten, weil sie dann nicht mehr vom Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gedeckt wäre.
Müssten oder müssen?
Das ist immer eine Frage des Einzelfalls. Das hängt maßgeblich davon ab, wie groß die Auswirkungen auf andere durch Ihre Blockade sind. Wenn es niemanden interessiert, was Sie da tun und sie niemanden behindern, dann können Sie vielleicht auch noch eine Weile stehenbleiben. Wenn Sie ein großes Verkehrshindernis sind, dann eher nicht. Wichtig zu wissen: Es gibt einen juristischen Leitsatz, der da lautet: Es gibt keine Gleichheit im Unrecht. Das heißt, nur weil vielleicht eine andere, rechtswidrige Zusammenkunft irgendwo in Deutschland geduldet worden ist, haben Sie keinen Anspruch darauf, dass das auch mit Ihrer rechtswidrigen Zusammenkunft so gemacht wird.
Mal angenommen, meine Freunde und ich würden keine Autos zur Blockade mitbringen, sondern Traktoren. Oder: Wir würden uns auf die Straße kleben. Würde das die Herangehensweise der Polizei an unsere Aktion im Kreisverkehr ändern?
Nein, gar nicht. Wir als Polizei bewerten weder Ihr Versammlungsziel noch die Mittel, mit denen Sie Ihre Versammlung durchführen.
Ist das wirklich so? In den vergangenen Wochen hat es zahlreiche Vorwürfe gegeben, die Polizei messe bei Blockaden mit zweierlei Maß. Während die Klimaaktivisten der Letzten Generation ziemlich schnell von der Fahrbahn geräumt wurden, nachdem sie sich auf Straßen geklebt hatten, um für mehr Klimaschutz zu protestieren, wurden die Blockaden von Bauern in aller Regel recht lange geduldet – selbst dort, wo Blockaden nicht angemeldet wurden, aber bestimmt keine Spontanversammlungen waren.
Zunächst muss man betonen, dass wir beim Versammlungsrecht immer eine Einzelfallprüfung machen. Es ist nie ein Fall eins zu eins mit dem anderen vergleichbar. Aber es ist natürlich trotzdem so: Wenn Sie sich auf der Straße festkleben und dann die Auflage bekommen, dass Sie sich für zwei oder drei Stunden versammeln dürfen, dann kommen Sie nach dem Ablauf dieser Zeit ja nicht wieder weg. Einen Traktor können Sie anschließend aus dem Weg fahren. Grundsätzlich muss man aber auch immer bedenken: Für Versammlungen ist die Polizei nur im Rahmen der Eilzuständigkeit verantwortlich. Originär zuständig sind eigentlich die Versammlungsbehörden.
Springen wir doch mal zum 8. Januar 2024 an einen großen Kreisverkehr bei Schleusingen in Thüringen, direkt hinter der Autobahn 73. Dort hatten mehrere Menschen den Verkehr mit ihren Autos blockiert. Ohne Anmeldung, aber bestimmt nicht spontan, denn sie hatten sogar eine Feuerschale, Grillzeug und einen Feuerlöscher dabei. Als Polizisten sie fragten, was sie da täten, haben sie weder einen Versammlungsleiter noch Ordner benannt. Nach Ihrer bisherigen Argumentation hätte die Polizei diese Blockade räumen müssen.
Es gibt zwei Gründe dafür, dass wir das nicht getan haben. Zum einen haben wir die Blockade, von der Sie sprechen, als Spontanversammlung gewertet, die sich für uns eingeordnet hat in den bundesweiten Aktionstag der Bauernproteste, denn das war der 8. Januar ja.
Gerade haben Sie noch gesagt, wenn sich jemand auf eine Versammlung vorbereitet, könne er für sich nicht mehr in Anspruch nehmen, eine Spontanversammlung durchzuführen.
Wir müssen auch immer berücksichtigen, wie demonstrationserfahren Menschen sind. Diejenigen, die sich bei Schleusingen versammelt hatten, haben nach unserem Eindruck nicht gewusst, was sie alles hätten beachten müssen, wenn sie sich ordnungsgemäß hätten versammeln wollen. Aber wie gesagt: Wir haben das eingeordnet in die landesweite Versammlungslage an diesem Tag und wollten das nicht eskalieren lassen – was mich zu dem zweiten Punkt führt, weshalb wir diese Blockade geduldet haben.
Nämlich?
Wir nennen das die »praktische Konkordanz«, die viel mit Verhältnismäßigkeit zu tun hat. Am Ende wäre die Frage gewesen, ob wir – um diese Blockade zu räumen – bereit gewesen wären, schwere Technik zu bestellen, um diese Autos da notfalls aus dem Kreisverkehr zu holen. Schon wegen der Wetterlage an diesem Tag wäre das schwierig gewesen. Zudem hätten wir die gewiss immensen Kosten für diesen Einsatz denjenigen in Rechnung stellen müssen, die sich da getroffen hatten. Das alles für welches Ergebnis? Wir hätten einen Verkehrskreisel geräumt.
Und die Polizei hätte das Recht durchgesetzt. Das können Sie doch nicht geringschätzen.
Natürlich nicht. Die Durchsetzung des Rechts ist ein wesentlicher Punkt unserer Arbeit. Aber zur Durchsetzung des Rechts gehört auch immer, dass wir uns fragen, wie verhältnismäßig eine Maßnahme ist.
Blockaden wie an diesem Kreisverkehr haben sich inzwischen dutzendfach wiederholt. Ob die Polizei dabei das Recht jeweils durchgesetzt hat oder nicht, hat also auch damit zu tun, welche Ressourcen sie zur Verfügung hat?
Na klar. Aber das ist auch nichts, was nur mit diesen Blockaden zu tun hat. Auch bei drei oder vier gleichzeitig laufenden großen Fußballspielen oder großen Versammlungslagen kommen auch wir an die Grenzen unserer Kapazitäten.
Also könnte man überspitzt sagen: Der »Fehler«, den die Aktivisten der Letzten Generation gemacht haben, ist es, dass sie sich zu viert oder zu fünft auf eine Kreuzung geklebt haben – und nicht 400 oder 500 Aktivisten gleichzeitig auf 100 Kreuzungen?
Noch einmal: Wenn wir eine Vielzahl an polizeilichen Lagen haben, werden wir priorisieren müssen, wie wir handeln.
Das mussten sie offenbar auch bei den vielen illegalen Corona-Protesten, bei denen Menschen massenhaft gegen die Schutzvorschriften und gegen das Verkehrsrecht verstießen?
Auch dabei ging es immer um Abwägungsfragen. Unser erster gesetzlicher Auftrag als Polizei ist die Gefahrenabwehr. Erst danach kommt die Strafverfolgung. Entsprechend dieses Auftrages haben wir uns bei den Corona-Protesten verhalten. Wenn die eingesetzten Polizisten sich entscheiden mussten, ob sie Menschen verfolgen, die bei Rot über eine Ampel laufen, oder ob Sie den fließenden Verkehr anhalten, um zu verhindern, dass die Protestierenden möglicherweise zu Schaden kommen, dann haben sie sich in der Regel für die Gefahrenabwehr entschieden.
Und damit gleichzeitig hingenommen, dass da hundertfach Ordnungswidrigkeiten und Straftaten begangenen worden sind, die meist nicht verfolgt wurden.
Na ja, ganz so ist das nicht. Wir haben nach solchen Protesten viele Anzeigen geschrieben, sodass Rechtsverstöße oft auch geahndet wurden. Viele, die auf solchen Demonstrationen mitgelaufen sind, sind hinterher mit Bußgeldern oder sogar Geldstrafen bedacht worden.
Na ja, gemessen an der Masse der Menschen, die während der Corona-Proteste auf der Straße waren, hat die Polizei doch nur einen Bruchteil der selbsternannten Spaziergänger angezeigt, oder?
Stimmt, wir haben häufig nicht die Masse der Protestierenden angezeigt, sondern häufig Rädels- oder Wortführer. Aber da, wo wir auch einfache Teilnehmer angezeigt haben, sollten Sie die sozialen Medien nicht unterschätzen. Durch Dinge, die man dort findet, sind viele Leute gar nicht so anonym unterwegs, wie sie meinen, auch wenn wir ihre Identität nicht direkt auf der Straße feststellen konnten.
Es bleibt aber dabei: Ab einer gewissen Masse von Delikten, die gleichzeitig verübt werden, ist eine Strafverfolgung wegen der begrenzten Ressourcen längst nicht für jedes einzelne Delikt möglich.
Ja. Das sehen wir jeden Tag. Wir als Polizei können nicht jede Straftat verfolgen, die gerade jetzt passiert. Das ist so. Wenn das anders sein soll, müssten wir in einem Polizeistaat leben, den ja nun auch niemand haben will.
Was macht das mit einem Polizeibeamten, der am Rande einer Blockade steht und genau weiß, dass hier etwas Illegales stattfindet, der aber nicht eingreifen kann?
Mit diesem Spannungsverhältnis muss ein Polizist umgehen können. Dabei hilft ein Stück weit auch Gelassenheit. Man muss im Laufe seiner Karriere lernen, dass wir – so gerne wir das auch täten – nicht die Welt retten können.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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