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Die Geisterstadt im Westjordanland

In Hebron ist das israelische Besatzungsregime und die Gewalt durch Siedler tagtäglich hautnah zu spüren

  • Mirco Keilberth, Hebron
  • Lesedauer: 5 Min.

Bevor Issa Amro aus dem Haus geht, holt er erst einmal tief Luft. »Um die Angst abzuschütteln«, sagt er. Der Palästinenser lebt in einem großen Haus im Stadtteil Rumia, etwas oberhalb der Altstadt von Hebron. Der idyllische Blick auf die sanften grünen Hügel und die sorgsam gepflegten Gassen trügt. Eine seltsame Ruhe liegt über Hebron, bis auf ein paar olivgrüne Militärjeeps sind keine Autos auf den Straßen, die meisten Passanten tragen die Uniform der israelischen Armee. In seiner Jugend schaute Issa Amro auf eine quirlige Handelsmetropole herab, bekannt für Stoffe und Lammfelle, die bis heute in die arabische Welt und China exportiert werden.

Hinter dem Haus ertönen plötzlich Schreie. Issa Amro ignoriert den Lärm, als ginge ihn dies nichts an, fängt aber an, die Vorhängeschlösser der Gartentüren seines umzäunten Grundstücks zu prüfen. Hinter einem Zaun steht ein kaum volljähriger Junge und schreit unentwegt auf hebräisch wüste Beschimpfungen gegen Amro. Alle direkten Nachbarn sind mittlerweile jüdische Siedler. »Ich werde von ihnen unentwegt beschimpft und bedroht, einfach so, grundlos. Sie wollen, dass wir Palästinenser hier abhauen

Die Fenster seines Hauses hat der 44-Jährige Aktivist mit großen Steinen barrikadiert, aus Angst vor gezielten Schüssen, wie er sagt. Auf seiner Hauswand steht »Freies Palästina«. Die meisten der 800 Siedler von Hebron sind mit automatischen Gewehren bewaffnet, gerade hat der für die Sicherheit Israels zustände Minister Bezalel Smotrich über 70 Millionen Euro für die Bewaffnung der Siedler umgewidmet, vor dem 7. Oktober war das Geld für Universitätsbibliotheken vorgesehen.

Ein Blick auf die Nachbarhäuser zeigt, wie erfolgreich das aggressive Auftreten der meist streng religiösen Siedler ist. »Viele meiner palästinensischen Nachbarn leben wie meine Familie seit Generationen hier, aber sie sind gegangen: Die Jungen finden hier keinen Job, die Alten halten es nicht aus, jeden Tag um ihr Leben bangen zu müssen«, sagt Issa Amro. Er selber will bleiben und hat aus seinem Elternhaus einen Treffpunkt für Menschenrechtsaktivisten gemacht. Israelis, die gegen das Besatzungsregime ankämpfen, und palästinensische Mitstreiter kommen normalerweise häufiger vorbei, doch seit dem 7. Oktober ist alles anders. Hebron ist noch mehr als zuvor eine Geisterstadt.

Keine 200 Meter entfernt von seinem Haus hat die israelischen Armee in einem Privathaus eine Position bezogen. Ein Scharfschütze sucht im oberen Stockwerk nach auffälligen Bewegungen in den von hier gut einsehbaren Straßen in der Altstadt. Im Erdgeschoss machen sich gerade sechs Soldaten für eine mehrstündige Patrouille bereit.

Joel Carmel weiß, wie die Patrouillen ablaufen, er war über ein halbes Jahr hier im Einsatz. »Man geht während seiner Schicht in mehrere palästinensische Häuser, die rein zufällig ausgewählt werden. Die Familien werden in ein Zimmer gesperrt, dann durchsucht man die Schränke. Natürlich findet man dort nichts Ungewöhnliches, aber die Idee ist ja nur, Angst und Schrecken zu verbreiten«, so der 35-jährige Israeli. Er steht neben Issa Amro und schaut nachdenklich auf die entspannt in die Stadt hinabgehende Patrouille der Armee, der »Israeli Defence Forces« (IDF).

Die 3000 in Hebron stationierten Soldaten sind bereits Beweis für die Zwei-Klassengesellschaft im Westjordanland. Sie schützen die 800 jüdischen Siedler in der Stadt und nehmen nur Palästinenser ins Visier, für die Militärrecht gilt. Viele der seit dem 7. Oktober festgenommenen Palästinenser sind monatelang ohne Anklage im Gefängnis. Die Übergriffe der Siedler gegen Palästinenser werden nach Zivilrecht beurteilt. Doch eigentlich gelte in Hebron sowieso nur das Recht des Stärkeren, sagt Issa Amro.

»Unser Hauptauftrag war, Präsenz zu zeigen«, sagt Joel Carmel. »Wie dies umgesetzt wird, war jedem kommandierendem Offizier selber überlassen.« Nach dem Ende seines Wehrdienstes schloss er sich »Breaking the Silence« an, einer 2004 gegründeten Initiative ehemaliger Soldaten, die über das Besatzungsregime im Westjordanland aufklären wollen. »Mir wurde während meiner Einsätze klar, dass wir mehr Terroristen schaffen, als wir jemals dingfest machen könnten«, begründet er seine Entscheidung. Aktivisten von »Breaking the Silence« führen Politiker, Journalisten und normale Bürger aus Israel und dem Ausland regelmäßig nach Hebron. »Hier ist die Ungleichbehandlung von Palästinensern und Israelis besonders deutlich zu sehen«, sagt Carmel. »Und man sieht deutlich, wie eine Handvoll Siedler die Armee für ihre Ziele instrumentalisieren.«

Carmel schaut seit dem 7. Oktober bei seinen Führungen regelmäßig bei Issa Amro vorbei. »Ich erfuhr von dem Angriff der Hamas, weil mich die Soldaten festnahmen und in ihre Basis verschleppten«, sagt Issa Amro. Im Detail berichtet er von Folter und einem Thema, das viele festgenommene Palästinenser lieber verschweigen. »Ich wurde sexuell missbraucht und spreche offen darüber«, sagt er. »Gesellschaftliche Tabus helfen doch nur den Besatzern.«

Hebron ist eine geteilte Stadt: 80 Prozent des Stadtgebietes und die dort lebenden 160 000 Einwohner stehen unter palästinensischer Verwaltung. Das Herz der Stadt wird von der israelischen Armee bewacht. In diesem seit dem Abkommen von Oslo »H2« genannten Gebiet leben 40 000 Palästinenser und 800 israelische Siedler. Fast die Hälfte der Häuser stehen leer. Wo einst Händler ihre Waren aus den ertragreichen Bauernhöfen der Umgebung anpriesen, herrscht Friedhofsruhe. In mehreren, sogenannten sterilisierten Straßen sind die Eingänge palästinensischer Häuser zugeschweißt.

Um die Siedler von der Bevölkerung zu trennen, hat die Armee den Bewohnern befohlen, ihre Häuser durch den Hintereingang zu verlassen. Rund um das für orthodoxe Juden heilige Grabmal Abrahams dürfen sich nur Christen aufhalten. Die Zufahrtsstraße nach H2 dürfen nur Palästinenser mit speziellen Genehmigungen mit Autos befahren, 60 hätten diese erhalten, sagt Joel Carmel. Als die Besuchergruppe auf den menschenleeren Platz vor dem Grabmal geht, fragt eine Soldatin freundlich, welcher Religion man denn angehöre. Als einer der Besucher angibt, Atheist zu sein, fragt sie nach dem Glauben der Eltern und Großeltern. »Dieses Besatzungsregime radikalisiert sowohl Palästinenser als auch Israelis«, sagt Joel Carmel. »Deswegen kämpfe ich dagegen.«

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