»Die Lausitz braucht frisches Blut!«

Wissenschaftler erwarten nach dem Kohleausstieg mehr Jobs als vorher – Zuwanderung erforderlich

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit dem Kohleausstieg spätestens im Jahr 2038 wird es im Lausitzer Revier nicht weniger Arbeitsplätze geben, sondern mehr als jetzt. Zu diesem Ergebnis kommen Experten der Technischen Universität Cottbus-Senftenberg und des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle, die den Strukturwandel in der brandenburgischen Niederlausitz seit 2021 wissenschaftlich begleiten. Im Cottbuser Startblock B2 stellte Mitautor Gunther Markwardt am Montag eine neue Studie zum erwarteten Engpass bei den Arbeitskräften vor.

Eng wird es vor allem, weil in den nächsten Jahren jeweils deutlich mehr Menschen in Rente gehen, als Schulabgänger nachrücken; aber auch, weil sich die Lausitzer Energie AG keineswegs aus der Region zurückziehen will, wenn der letzte Tagebau stillgelegt und das letzte Braunkohlekraftwerk abgeschaltet ist. Geschäftsfelder wie Solarenergie, Windkraft und die Wartung von Waggons sollen ausgebaut werden oder zumindest bestehen bleiben. Damit fallen auf der einen Seite nicht so viele Jobs weg wie ursprünglich erwartet. Auf der anderen Seite entstehen neue Arbeitsplätze: 4650 in der Industrie, 1050 in der Wissenschaft und 650 in Behörden. Und dies sei vorsichtig gerechnet, versicherte Markwardt. Neue Jobs im Industriegebiet Schwarzheide, das an der Grenze zu Sachsen und teils drüben im Freistaat liegt, seien beispielsweise gar nicht berücksichtigt.

»Bislang hat die Begleitforschung Arbeitsplatzankündigungen und Arbeitsplätze gezählt«, sagte Markwardt. »Auch wenn Ankündigungen noch keine Arbeitsplätze sind, ist die Botschaft klar: Die Kompensation der Arbeitsplätze in der Braunkohleverstromung darf als geglückt angesehen werden.« Der Wissenschaftler kündigte an: »Wir zählen nicht mehr Arbeitsplätze, sondern müssen nun die Menschen zählen, die diese Arbeitsplätze besetzen könnten.« Oder wie Brandenburgs Bevollmächtigte beim Bund, Staatssekretärin Friederike Haase, es formuliert: »Die Lausitz braucht frisches Blut!‹«

Die Experten gehen das Potenzial Schritt für Schritt durch: Arbeitslose? Rund 25 Prozent betrug die Arbeitslosenquote vor 20 Jahren. Es war eine »dunkle Zeit«, erinnert Markwardt. Doch jetzt beträgt die Quote im Arbeitsamtsbezirk Cottbus nur noch 6,3 Prozent. 19 000 Niederlausitzer sind erwerbslos gemeldet. Doch von denen müsse man 7500 Langzeitarbeitslose abziehen, die nur schwer zu vermitteln seien, rechnet Markwardt vor. Mit Blick auf die übrigen Betroffenen spricht er von »fiktionaler Arbeitslosigkeit«. Das seien Menschen, die schnell eine neue Beschäftigung finden, die Stelle aber nicht sofort antreten können und sich nur zur Überbrückung ein paar Wochen oder Monate arbeitslos melden. »Da sind wir nah dran an der Vollbeschäftigung.«

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Frauen? Sind in der Niederlausitz zu 80,2 Prozent berufstätig, was im Vergleich zu anderen Bundesländern und anderen EU-Staaten schon sehr viel ist.

Teilzeit aufstocken und am besten in Vollzeit umwandeln? Es sei heute nicht mehr so wie einst, dass die Menschen notgedrungen Teilzeit arbeiten, weil sie keine volle Stelle finden. Nur jeder 17. Teilzeitbeschäftigte arbeite unfreiwillig reduziert und würde seine Wochenarbeitszeit gern aufstocken, berichtete Markwardt unter Berufung auf eine bundesweite Erhebung. Wie es bei den 18 000 Teilzeitbeschäftigten in der Niederlausitz aussieht, vermag er nicht zu sagen, doch vermutlich geht es in dieselbe Richtung.

Ein echtes Potenzial erkennt die Studie bei den 23 500 Menschen, die von der Lausitz zur Arbeit woandershin pendeln. 9200 von ihnen haben dabei einen sehr weiten Weg von mehr als 150 Kilometern. Sie arbeiten zu einem nicht geringen Teil in Westdeutschland. Die lange An- und Abreise kostet Geld und raubt wertvolle Lebenszeit. Für diese Menschen könnte ein Job in der Heimat schon attraktiv sein, auch wenn er nicht ganz so gut entlohnt wird wie der bisherige, aber immer noch anständig.

Eine viel zu wenig genutzte Fachkräftereserve sind die 2250 ausländischen Studierenden an der Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, die rund 25 Prozent aller an dieser Hochschule Immatrikulierten ausmachen. Doch im Moment plant weniger als die Hälfte von ihnen, nach dem Abschluss im Revier zu bleiben.

Auch ukrainische Flüchtlinge sollten als Arbeitskräfte in Betracht gezogen werden, selbst wenn Brandenburgs Wirtschaftsminister Jörg Steinbach (SPD) am Montag meinte, der russische Angriffskrieg könne nicht die Lösung für das Arbeitskräfteproblem in Deutschland sein. Viele Ukrainer warten seiner Ansicht nach nur darauf, in die Heimat zurückkehren zu können. Dass ukrainische Flüchtlinge seltener als in Polen eine Arbeit aufnehmen, wird mit mangelnden Deutschkenntnissen erklärt, aber auch mit einer »Arroganz«, ausländische Berufsabschlüsse nicht anzuerkennen, wie Steinbach bedauert. Das könne man sich angesichts der Lage eigentlich nicht mehr leisten.

Am Ende werde es aber nicht ausreichen, die bereits hier lebenden Zuwanderer in Arbeit zu bringen. Man müsse offensiv um Zuwanderung aus dem In- und Ausland werben, heißt es in der Studie. Dann dürfe es aber nicht sein, dass ihm auf dem Cottbuser Altmarkt ins Gesicht gesagt werde, er stehe auf der Gehaltsliste reicher Juden und werde von denen gesteuert, erklärte der Wirtschaftsminister am Montag. Wenn solche Kräfte bei der Kommunalwahl am 9. Juni das Sagen bekommen, »dann können wir alle einpacken«.

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