- Wirtschaft und Umwelt
- Verdi
Streik im Nahverkehr: Übermüdet in Bus und Straßenbahn
Aktivisten und Beschäftigte streiken gemeinsam für Klimaschutz und bessere Arbeitsbedingungen im ÖPNV
André Wendel lenkt Busse durch Leipzig. Zunächst hat er bei den Leipziger Verkehrsbetrieben (LVB) 20 Jahre lang Fahrzeuge gereinigt, seit 13 Jahren sitzt er selbst am Steuer. Weil der Verkehr in der 600 000-Einwohner-Stadt indes stetig zunimmt, verlangt der Job Geduld, höchste Konzentration und Fahrer, die ausgeruht sind. Letzteres ist freilich oft nicht der Fall. Wendel und seine Kollegen beginnen ihren Dienst vielfach an einem Ende der Stadt und beenden ihn an einem anderen. So entstehen lange Wegezeiten, die den Beschäftigten zwar nicht bezahlt, aber auf ihre Ruhezeiten angerechnet werden. Einen guten Teil der gesetzlich vorgeschriebenen Pause von zwölf Stunden zwischen zwei Diensten, die laut einer Betriebsvereinbarung ohnehin auf elf Stunden verkürzt werden darf, verbringt Wendel auf dem Arbeitsweg. »Das ist auf Dauer kein Zustand«, sagt der 53-Jährige: »Wir brauchen jede Minute für die Regeneration.«
Die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV) stehen im Mittelpunkt von Tarifverhandlungen, die in Sachsen derzeit zwischen der Gewerkschaft Verdi und den kommunalen Arbeitgebern geführt werden. In den Nachbarländern Thüringen und Sachsen-Anhalt geht es zusätzlich auch um Geld, sagt Verdi-Verhandlungsführer Paul Schmidt: »Dort gibt es eine erhebliche Lohnlücke. Die Kollege verdienen 400 bis 500 Euro weniger als in Sachsen.« Im Freistaat, der jahrelang bundesweites Schlusslicht war, konnte schon Ende 2023 ein sattes Lohnplus von 23 Prozent ausgehandelt werden, mit dem die Gehälter auf bundesweite Durchschnittswerte angehoben wurden. Nun geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen gearbeitet wird: zusätzliche Tage zur Regeneration etwa oder Pausen, die lang genug sind für Frühstück und den Gang zur Toilette. Jetzt habe sie an der Wendeschleife oft nur fünf Minuten, bis die nächste Fahrt beginne, sagt LVB-Straßenbahnfahrerin Heike Hessel. Der Druck ist enorm; nach fünf Tagen im Führerstand sei sie »total kaputt«. Viele Fahrer seien ausgepowert, die Krankenstände hoch, das Familienleben leide, und Berufseinsteiger gäben oft nach kurzer Zeit erschöpft auf.
Bei den Arbeitgebern stoßen Forderungen nach Verbesserungen bisher auf taube Ohren. In Thüringen und Sachsen-Anhalt sei ein Lohnplus angeboten worden, das Verdi-Mann Schmidt aber unzureichend nennt. Weitere Verhandlungen werden nach seinen Angaben verweigert, weil die Gewerkschaft Streiks vorbereite. Mit der gleichen Begründung sagte der Kommunale Arbeitgeberverband Sachsen die für Mittwoch geplante zweite Verhandlungsrunde ab. Dort sei zuvor nur angeboten worden, den bestehenden Vertrag um fünf Jahre zu verlängern. Ein Unding, findet Tramfahrerin Hessel: »Die Arbeitgeber dürfen davon ausgehen, dass es weitere Streiks gibt, wenn keine Zugeständnisse erfolgen.«
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Streikaktionen gibt es in Leipzig wie in vielen anderen Städte und Landkreisen in Sachsen und anderen Bundesländern an diesem Freitag. Allerdings handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Arbeitskampf. Die Aktionen werden gemeinsam mit Klimaaktivisten von Fridays for Future (FFF) organisiert, im Rahmen eines Bündnisses mit dem Titel »Wir fahren zusammen« (WFZ). Allein in Leipzig werden 2500 Teilnehmer bei einer Demonstration erwartet. Vor drei Jahren noch habe FFF Schulen bestreikt, um besseren Klimaschutz durchzusetzen, sagt Sprecherin Luise Steeck. Dass man nun gemeinsam mit Bus- und Bahnfahrern auf die Straße gehe, »hat es so noch nie gegeben«, betont sie und spricht von einer »wertvollen Zusammenarbeit«.
Sie ist indes naheliegend, ergänzt WFZ-Aktivistin Robin Rehse. Sie besitze kein Auto, fahre regelmäßig mit Bus und Bahn und habe sich über Ausfälle und Verspätungen geärgert. Erst durch Gespräche mit Beschäftigten wie Heike Hessel habe sie die Hintergründe erfahren. Jetzt weiß sie: »Die Ursachen für die schlechten Arbeitsbedingungen im ÖPNV und für die Klimakatastrophe sind die gleichen.« Beides wurzele in einem Wirtschaftssystem, in dem »wenige Leute auf Kosten der Allgemeinheit und der Umwelt« lebten und enormen Reichtum anhäuften. Dieses System, ist sie überzeugt, müsse geändert werden.
Vorerst geht es um naheliegendere Dinge, vor allem eine deutlich bessere finanzielle Ausstattung des Nahverkehrs. In einer Petition fordert »Wir fahren zusammen« zusätzliche 16 Milliarden Euro vom Bund, die in den Nahverkehr investiert und für bessere Arbeitsbedingungen genutzt werden sollten. Dafür haben Aktivisten seit einem Klimastreik im September Unterschriften bei Fahrgästen und Beschäftigten gesammelt: 121 000 bundesweit, 6000 allein in Leipzig. Nur so sei das Ziel der Bundesregierung zu erreichen, die Zahl der ÖPNV-Nutzer bis 2030 zu verdoppeln. Das Argument klammer Kassen lässt Rehse nicht gelten und verweist auf hohe klimaschädliche Subventionen etwa für Dienstwagen oder Flugbenzin. Dass Klimaschützer und Beschäftigte gemeinsam agieren, empfindet Rehse als ungemein bereichernd. »Wir haben viel voneinander gelernt«, sagt sie, »und Seite an Seite sind wir stärker.« Seite an Seite sind wir stärker.» Die LVB suchte den Streik derweil auf juristischem Weg zu unterbinden und klagte am Donnerstag beim Arbeitsgericht, weil es sich um eine politische und keine tarifpolitische Maßnahme handle.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.