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Lieferando und die Probezeit
Kritischer Lieferkurier wird nach Arbeitsunfall gekündigt, Gewerkschaftsaktive deuten Instrumentalisierung der Probezeit an
Als Gurpreet Singh* Mitte Januar während der Arbeitszeit verunfallt, arbeitet er gerade etwas mehr als fünf Monate für Lieferando. Weniger als vier Wochen hätten ihm gefehlt, dann wäre seine Probezeit vorbei gewesen. Doch genau an dem Tag, als diese zu Ende gewesen sei, sagt er »nd«, sei er gekündigt worden. Aussagen des zuständigen Sekretärs der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und von gewerkschaftsaktiven Beschäftigten deuten auf eine mögliche Instrumentalisierung der Probezeitkündigung hin.
Singh stürzt an diesem Sonntagabend auf den Kopf. Er verliert das Bewusstsein, wird für zwei Tage zur stationären Behandlung ins Krankenhaus gebracht. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma und Tinnitus. »Ich habe noch immer rund um die Uhr diesen Tinnitus. Ich bin noch immer krankgeschrieben, habe Schlafprobleme, Angstzustände, wenn ich auf die Straße trete. Ein Fahrrad anzufassen, ist mir nicht möglich«, sagt Singh.
Als Singh stürzt, hat er keinen Helm auf. Dabei habe er mehrmals nach einem gefragt, sagt er, zunächst gleich zu Beginn des Arbeitsverhältnisses. »Es gab immer Probleme mit der Arbeitsausrüstung. Zu Beginn bekam ich lediglich einen Rucksack.« Er habe nach jedem Einzelteil fragen müssen, am Ende andere Rider gefragt, was man vom Hub bekommen könne. »Aber einen Helm habe ich nie bekommen.« Max Muszkat* arbeitet seit mehreren Jahren für Lieferando und organisiert sich im Lieferando Workers Collective (LWC). Muszkat spricht von zwei Klassen von Kolleg*innen: »Die Kolleg*innen in der Probezeit haben Probleme, ihr Equipment zu bekommen. In den ersten sechs Monaten gehen viele krank, verletzt oder ohne Equipment arbeiten.«
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Er frage nach, wenn er Dinge nicht verstehe oder sie ihm nicht richtig erschienen, sagt Singh. Kolleg*innen hätten das bemerkt und ihm geraten, nicht zu viel, nicht zu kritisch nachzufragen, sonst werde er gefeuert. Er habe das Fragestellen dann aufgegeben.
Irgendwann habe er eine Einladung vom Betriebsrat zur Betriebsversammlung bekommen, damit zu dem Zeitpunkt aber nichts anfangen können. So habe er das Management gefragt, ob das eine Veranstaltung von Lieferando sei. Das Management habe ihm erklärt, dass sie vom Betriebsrat sei, von dem Moment aber von seinem Interesse daran gewusst. »Der Betriebsrat sagte mir: ›Wenn sie wissen, dass du an Betriebsratsaktivitäten teilnimmst, ist das nicht gut für dich.‹«
Veit Groß betreut Lieferando als Gewerkschaftssekretär der NGG und sagt dazu: »Personen, die sich in der Probezeit befinden und gewerkschaftlich in Erscheinung treten, müssen mit einer Kündigung zumindest rechnen.« Der Rider Muszkat vom LWC erwähnt gegenüber »nd« eine »Atmosphäre der Angst«. Sie habe sich bei seinem Kollegen Singh womöglich bestätigt. »Er war ja sehr aktiv und leider auch sehr naiv«, sagt Muszkat. »Im großen Maßstab lähmt das natürlich die gesamte Belegschaft, sich für ihre Interessen einzusetzen.«
»Im Dezember und Januar begann es, stark zu schneien.« Also habe er nochmals nach einem Helm gefragt, erklärt Singh, »weil der Job gefährlicher wurde. Ich hatte bereits zwei kleinere Unfälle gehabt.« Wenn er zum Hub komme, werde er einen Helm bekommen, habe Lieferando erneut versichert. Doch dazu kam es dann nicht mehr. Drei Tage später ereignete sich der Unfall.
Während der Probezeit kann der Arbeitgeber ein Arbeitsverhältnis innerhalb einer Frist von zwei Wochen ohne Angaben von Gründen kündigen. Dabei verkürzt die Probezeit aber nur die Kündigungsfrist. Dass keine Gründe angegeben werden müssen, liegt daran, dass der gesetzliche Kündigungsschutz erst nach sechs Monaten greift. Einem Arbeitgeber steht dabei frei, vertraglich auf eine Probezeit zu verzichten und den Kündigungsschutz ab dem ersten Tag gelten zu lassen.
Singhs Probezeitkündigung ist eine von vielen, Teil einer sogenannten Massenentlassung. Das bestätigt der Rechtsanwalt Martin Bechert »nd«. Insgesamt wurden laut Angaben des LWC 2023 etwa 200 Beschäftigte in der Probezeit gekündigt, das entspricht rund 58 Prozent aller Arbeitgeberkündigungen. Die Probezeit, ursprünglich zur Erprobung des Arbeitsverhältnisses eingeführt, werde von Lieferando voll ausgenutzt, sagt Gewerkschafter Groß. »Häufig wird erst nachfünfeinhalb Monaten gekündigt, ohne dass bei der Auswahl irgendeine Eignungsprüfung vorgenommen wird.«
Die NGG habe den Verdacht, dass »auf Kosten der Beschäftigten flexibel auf den Arbeitskräftebedarf reagiert wird«. Auch Muszkat zeigt auf den Saisonbetrieb und meint, im Herbst gebe es Masseneinstellungen und im Frühling, wenn der Krankenstand naturgemäß höher sei, Massenentlassungen. »Mein Gefühl ist, die nutzen das, um das Personal entlang der Auftragslage skalieren zu können«, sagt Muszkat.
Lieferando selbst bezeichnet Singhs Schilderungen als »unzutreffend«. Er habe »nahezu jederzeit einen Helm in passender Größe am Betriebssitz abholen können, wurde auch mehrfach dazu aufgefordert«. Versuche der Kontaktaufnahme seitens Lieferando habe der Fahrer nach dem Unfall abgeblockt.
Darüber hinaus erklärt das Unternehmen »nd«: »Eine Kündigung ist auch für uns immer die letzte Wahl.« Man freue sich über eine vergleichsweise lange Betriebszugehörigkeit. Es gebe aber auch Ausnahmen. Man bekomme mit, ob jemand zuverlässig arbeite oder wenn sich Beschwerden häuften. Und: »Dass die Jobkapazitäten immer auch von der Auftragslage abhängen, ist klar und unvermeidbar.« Mit Blick auf den Verdacht der Gewerkschaftsbehinderung erklärte das Unternehmen: »Wir wenden uns nicht gegen die Gründung von Betriebsräten, setzen uns nur dafür ein, dass die Mitbestimmung inklusive ihrer Strukturen gesetzeskonform und funktional ist.« Gewerkschaftlich engagierte Mitarbeiter*innen einzustellen, ändere nichts an der Anzahl der Mitbestimmungsgremien.
Dass wie im Fall von Singh erst am Ende der Probezeit gekündigt wird, bringt auch Nachteile für die Arbeitgeberseite mit sich. Singh etwa sagt, er habe die Kündigung nicht rechtzeitig erhalten. Er prozessiert daher vor dem Arbeitsgericht. Sein Ziel: wieder für Lieferando arbeiten und seine Kolleg*innen unterstützen: »Hier arbeiten viele Menschen aus Südasien, viele haben schlimmere Erfahrungen gemacht.«
Der Betriebsrat teilte »nd« auf Anfrage mit, zu dem vorliegenden Sachverhalt in der gesetzten Frist nicht Stellung beziehen zu können.
*Name auf Wunsch geändert
Wir haben den Artikel um eine nachträgliche Eingabe von Lieferando zu den Schilderungen des verunfallten Kuriers ergänzt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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