Verzauberung des Lebens

Zum 70. Geburtstag des europäischen Erzählers Christoph Ransmayr

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Das Wirkliche und das Mögliche: Ransmayr interessiert sich auch für den Norden mit seinen Effekten in der Kälte: Nordlicht über Westgrönland
Das Wirkliche und das Mögliche: Ransmayr interessiert sich auch für den Norden mit seinen Effekten in der Kälte: Nordlicht über Westgrönland

In einem Essay beschreibt Christoph Ransmayr seine Lebensjahre an der irischen See und entwirft das Bild der dortigen »dritten Luft«. Die erste Luft enthalte alle Gerüche und Geräusche der engsten und geheimsten Umgebung eines Menschen, »den Geruch der Wolljacke und der Haut der Mutter, den Klang ihrer Stimme«. Die zweite Luft trage die Gerüche und Geräusche der ganzen Küste. Doch erst in der dritten Luft werde hinzugefügt, was zum vollständigen Bild der Welt noch fehle; es ist die Luft der »Tanzsäle und Theater, der rauchigen Pubs, die Luft der Geschichten und der Verzauberung des Lebens in Liedern«.

Christoph Ransmayr, Österreicher aus Wels, ist schreibend ein Reisender. Ein Bilder-Maler, in dessen betörender Sprache sich exotische Farben, Namen, Klänge zum geografisch-mythischen Gewebe fügen. Klagelieder an den Sarkophagen von Sha Jahan. Eine Polarnacht in der Allerheiligenbucht von Novaja Zemlja. Verschlammte Straßen zwischen Lahugala und Kitulana. Das Tal der Tempel von Agrigent.

Die Liebe zum Einzelnen und der Glaube in den Erzählwert jeder Biografie – beides ist bei Ransmayr unantastbar groß. So dass sich für diese Roman- und Reise-Prosa sagen lässt: Ob tibetischer Halbnomade in rußiger Steinhütte, buddhistischer Mönch im schlammüberfluteten Wald von Banyanbäumen oder wandernder Wiener Maler in der Wildnis von Mafate – bei diesem Schriftsteller ist jeder Mensch ein Zentrum: »Tief im Inneren seiner ureigenen Geschichte ist er zugleich in der Mitte der Welt.«

Wiederkehrendes Widerspruchspaar in den Romanen: das Wirkliche und das Mögliche. Zwischen den Wörtern die vielen Gesichter der Wetter, die Stille einer Sternennacht, das Knirschen des Eises und das Rasen mondweißer Wellenkämme. Immer wieder ist von Aufbrüchen die Rede, von Düsternissen der Wege, von der Kraft einer Natur, die nichts weiter ist als sie selbst.

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Ob »Die letzte Welt« oder »Morbus Kitahara« oder »Der fliegende Berg«: Ransmayrs Romane haben dort, wo der Mensch nicht hingehört, das Menschenlied angestimmt – jenes hohe Lied der Versuchung, sich an den Rändern der Erde seiner selbst zu vergewissern. Um so eine Antwort zu erhalten (und zu ertragen!), die zurückführt zur erregendsten Weltreise, derer wir fähig sind: der Reise ins eigene unbekannte Gemüt. Ankommen und Verlorenheit, Beglückung und Angst – Leben und Tod verdichten sich dort, wo es besonders finster und eisig ist, zum unbegreiflichen Punkt einer immer unwirklicher werdenden Existenz. Ransmayr reißt Wunden auf, in denen die Sehnsucht sonst vernarben würde.

»Auf und davon« lautet der Grabspruch, den er sich wünscht. Auf und davon: das Lebensmotto. Als Reinhold Messner vor Jahrzehnten den ersten Roman Ransmayrs las, hielt er den Autor für einen professionellen Abenteurer. »Die Schrecken des Eises und der Finsternis« ist das Buch über eine Nordpolexpedition im 18. Jahrhundert; es erzählt die Begierde, dem Geheimnis der Unendlichkeit auf die Spur zu kommen. Ein solches Sinnen kann nur so enden, wie es schon der Beginn des Romans weiß: »Josef Mazzini reiste oft allein und viel zu Fuß. Im Gehen wurde ihm die Welt nicht kleiner, sondern immer größer, so groß, dass er schließlich in ihr verschwand.«

Träume vom glücklichen Ende jedes Beginnens kreuzen sich bei Ransmayr mit dem Wissen um eine Gefangenschaft des Menschen in unausweichlichen Gesetzen eines Verwitterns und Verschwindens im Kreislauf einer größeren Ordnung. Denn keine noch so gewaltige Idee erlöst uns Mickrige. Das Erzählen freilich, die Poesie, rettet vor der vorauseilenden Verzweiflung. Und weil diese Verzweiflung Siebenmeilenstiefel trägt und schnell an Tempo gewinnt, schreibt Ransmayr, um ihr zuvorzukommen, ganz langsam. So jedenfalls scheint es. Etwa sieben Jahre arbeitet er an einem Roman.

»Cox oder Der Lauf der Zeit« heißt das faszinierend sprachbarocke Buch über einen renommierten englischen Uhrmacher des 18. Jahrhunderts. Er reist nach China, um dem dortigen Kaiser als Geschenk Uhren zu bauen, die der Verschiedenartigkeit des menschlichen Empfindens gerecht werden. Denn die Zeit eines Kindes ist nicht vergleichbar mit der des Sterbenden, und die Stunde des Glücklichen schlägt anders als jene des Verzweifelten. Die wechselnden Rhythmen der seelischen Verfasstheit in lesbaren Zeitsignalen auszudrücken – ein unerfüllbarer Auftrag für Cox. Das Unerfüllbare als Lockruf ohne Alternative.

Der 1944 geborene Ransmayr begann als Reporter bei »Geo« und »Merian«. Er ist ein Freund Claus Peymanns und Anselm Kiefers, er erhielt Preise, die den Namen Kafkas, Brechts, Hölderlins, Bölls tragen. Mir unvergessen, wie Ransmayr bei einem großen nd-Interview von seinem Vater erzählte. Der einst als Kriegsgefangener auf der Krim die russischen Klassiker im Original las. Ein Armenhäusler-Kind, das aber jenem verständlichen Bildungsehrgeiz, seinem Elend unbedingt entkommen und also in eine Karriere hineinkommen zu wollen, nicht nachgab. Denn: Es wäre eine Karriere unter Nazis geworden. Der Vater: »Ich wollte unter denen nichts werden.« O ehrenwertes Beispiel. Der Sohn: »Wer in der Barbarei nicht glänzen will, arbeitet nicht an der Rettung, aber doch an einer federleichten Verbesserung der Welt.«

Es ist einem beim Lesen dieser Literatur, als sei alles Gewesene an die Oberfläche gestiegen und ans Licht getreten, um irgendwann gewiss wieder in einer ungeheuren Tiefe zu versinken. Man wähnt sich, an fernem Gestade, einem Geheimnis der Existenz nahe – und man ahnt, dass alles, was wir Geheimnis nennen, an seinem Ursprung absolute Klarheit, Einfachheit, Einfalt war. Leidenschaft führt den einen ins All, den anderen in Meerestiefen, den dritten in Wüsten aus Eis oder Sand – und uns, die weniger Heroischen, führt Abenteuerlust in Bücher von Christoph Ransmayr. Inmitten von Welt erfinden sie eine Welt, die mehr widerspiegelt als unsere blässlichen Gesichter.

Seit Mittwoch ist dieser bedeutende Schriftsteller Europas 70 Jahre alt.

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