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Moskau: Schuldzuweisung als Mittel des politischen Kampfes
Die Deutung und die Folgen des Terroranschlags auf das Veranstaltungszentrum Crocus City Hall bei Moskau sind heftig umstritten
Der Anschlag von Moskau bringt Wladimir Putins Anhänger und Gegner gleichermaßen in Verlegenheit: Die Ersteren müssen irgendwie verarbeiten, dass ein koordinierter bewaffneter Angriff in der Hauptstadt möglich ist – nach über 20 Jahren, in denen der Kampf gegen alle Arten von »Extremismus« und die Stärkung des Sicherheitsapparates erklärter Schwerpunkt der Politik der russischen Führung ist.
Die Anderen müssen ihre Bestürzung über die Tat so äußern, dass daraus unter keinen Umständen eine Relativierung der Feindschaft zu Putin oder vorübergehender Unterstützung der von ihm ergriffenen Maßnahmen gelesen werden kann. Dieses politische Problem lässt sich deutlich in den Reaktionen ablesen.
Die westlichen Staats- und Regierungschefs verurteilen die Tat, drücken dem »russischen Volk« ihre Anteilnahme aus, ohne jedoch Moskau Hilfe im Kampf gegen den Terrorismus zuzusichern. Die Stoßrichtung ist klar: Putin darf auf keinerlei Milde hoffen, nur weil er Oberhaupt eines Staates ist, der sich mit Terrorattacken konfrontiert sieht. Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis geht mit einem Post auf der Plattform X sogar noch weiter: »Lasst uns nicht den Fokus aus den Augen verlieren.« Empathie mit der russischen Bevölkerung scheint für ihn bereits Verrat an der Solidarität mit der Ukraine zu sein.
Die regierungstreuen russischen Medien haben noch vor der offiziellen Stellungnahme von Präsident Wladimir Putin das Narrativ einer »ukrainischen Spur« in den Fokus gerückt, kombiniert mit Spekulationen über die Rolle der westlichen Geheimdienste, die angeblich wiederum die Ukraine steuern. Das Vorgehen gegen die Ukraine soll damit als »antiterroristischer Kampf« legitimiert werden.
Offizielle russische Stellen deuten den Anschlag als Teil eines Feldzugs gegen Russland. Daran ändert auch nichts, dass kein anerkannter Staat offiziell den Anschlag unterstützt und keine politischen Forderungen der Terroristen vorliegen. Putin erklärte, auf die mutmaßlichen Täter habe in der Ukraine ein »Fluchtfenster« gewartet. Wie die russischen Grenzkontrollen überwunden werden sollten, wird aus der Erklärung nicht klar. Die Bilder von Misshandlungen der gefangenen Tatverdächtigen werden nicht als Rechtsbruch kommentiert, dafür kündigt der Leiter der Duma-Fraktion der Kreml-Partei »Einiges Russland«, Wladimir Wasiljew, an, die Wiedereinführung der Todesstrafe zu prüfen.
Aufseiten der russischen Opposition lassen sich zwei Linien erkennen: Eine Minderheit will die – reichlich verschwörungstheoretisch wirkende – Version einer »False flag«-Operation der russischen Geheimdienste nicht ausschließen. Die meisten liberalen und linken Akteure, die die Ereignisse via Youtube und Telegram kommentieren, sehen ein Versagen der Behörden, die vor allem mit dem Kampf gegen Kriegsgegner und die fiktive »internationale extremistische Organisation LGBT-Bewegung«, wie sie in einem Gerichtsurteil genannt wird, beschäftigt waren. Liberale Medien äußerten zunächst Zweifel an der Täterschaft des Islamischen Staats – Khorasan. Jetzt fokussieren sie sich darauf, dass die außenpolitische Annäherung an den Iran den Zorn von sunnitischen islamistischen Gruppierungen auf Russland gelenkt habe. Sowohl Liberale wie Michail Kaz und Ekaterina Schulman als auch Sozialisten wie Alexander Schtefanow verweisen auf das Scheitern des Staates, mit drastischen Mitteln Terrorismusgefahr zu bannen.
Vielsagend ist auch die Reaktion westlicher Medien: »Ist es ein Anschlag? Ist es ein Terrorakt?«, fragte Welt-TV den Terrorexperten Rolf Tophoven, der daraufhin die Einheit des Inlandsgeheimdienstes FSB »Alfa« dem Innenministerium zuordnet und von der »tschetschenische Flamme«, die in Russland brenne, fantasiert. Bemerkenswert ist auch, dass »Solidaritätsaktionen« wie das Platzieren von Nationalflaggen als Profilbild in sozialen Netzwerken seitens einfacher Bürger nur in Bezug auf halbwegs befreundete Staaten praktiziert werden. Dabei geht es doch eigentlich um die Bevölkerung.
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