Regenbogenfahnen am Pirnaer Rathaus

Buntes Bündnis protestiert gegen Vereidigung von Deutschlands erstem AfD-Oberbürgermeister

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Hannah Schulze will ihre Genugtuung nicht verhehlen. »Ich freue mich, so viele Regenbogenfahnen vor dem Rathaus zu sehen – trotz Tim Lochner!«, ruft die junge Frau in die rund 1000-köpfige Menge. Die Sprecherin der Initiative »SOE gegen rechts« steht auf einer großen Bühne vor dem Gebäude der Stadtverwaltung. Diese wird seit Februar angeführt von Tim Lochner, vormals Tischlermeister, jetzt der erste von der AfD aufgestellte Oberbürgermeister bundesweit. Er hatte angekündigt, dass es mit ihm in der sächsischen Kreisstadt keine kostenlosen Parkplätze für Elektroautos mehr geben werde – und keine Regenbogenfahnen am Rathaus. Diese sind Symbol der queeren Community und einer gesellschaftlicher Vielfalt, welche die AfD ablehnt.

Zu der Kundgebung am Dienstag hatte ein Aktionsbündnis aufgerufen, dem Parteien, Gewerkschaften, die Diakonie und viele Vereine und Initiativen angehören. Man wolle damit »Lochner den Feierabend versauen«, wie das Zentrum Interkulturelle Verständigung auf dem Twitter-Nachfolger X schrieb. Anlass für die Versammlung war Lochners zunächst für Dienstag geplante Vereidigung im Stadtrat. Diese war kurzfristig allerdings auf Montag vorgezogen worden. Offiziell wurde das mit einem großen Publikumsinteresse begründet, der zur Verlegung vom Ratssaal in die am Dienstag anderweitig belegte Herderhalle geführt habe. Auf dem Pirnaer Markt äußerte man sich überzeugt, dass Lochner der öffentlichen Kritik an seiner Wahl aus dem Weg gehen wollte. Als der neue OB am Montag den Amtseid ablegte, verließen Teile des Publikums aus Protest den Saal. Lochner wiederum sorgte für Aufsehen, als er nach dem feierlichen Akt zu einer Schweigeminute für die Opfer des Terroranschlags in Moskau aufrief. Die AfD ist für einen sehr russlandfreundlichen Kurs bekannt.

Lochner hatte sich bei der Oberbürgermeisterwahl im Dezember in zwei Wahlgängen durchgesetzt. In der entscheidenden Runde lag er mit 38,5 Prozent deutlich vor seinen Konkurrenten von CDU und Freien Wählern, die sich nicht auf ein abgestimmtes Vorgehen hatten einigen können. Lochner ist formal parteilos, gehörte aber der Stadtratsfraktion der Partei an und wurde auch zur OB-Wahl von der AfD aufgestellt. Diese wird in Sachsen vom Verfassungsschutz als »gesichert rechtsextremistisch« eingestuft. Der 53-Jährige Rathauschef erklärte bei einer Pressekonferenz zu seinem Amtsantritt, er habe damit kein Problem. Er selbst gilt als moderat, sorgte aber für Aufhorchen, als er ankündigte, die Rathausmitarbeiter auf »Loyalität« prüfen zu wollen.

In der Stadtgesellschaft wecken derlei Äußerungen große Befürchtungen. Bei der Kundgebung schilderte ein Schüler die täglichen Anfeindungen durch rechtsextreme Altersgefährten, die ihn in der Schule permanent als »Zecke« beschimpften und ihn auf dem Schulweg drangsalierten: »Diese Menschen feiern Tim Lochner und seine Wahl.« Er erinnerte auch daran, dass Lochner im Februar seien Dienstantritt verschoben hatte, um an einer Veranstaltung der AfD in Baden-Württemberg teilnehmen zu können. Dort habe er als Geschenk einen Kalender überreicht bekommen, der die »12 schönsten Abschiebeflieger« zeige. Eine Rednerin mit Migrationshintergrund berichtete bei der Kundgebung von offen rassistischen Anfeindungen auf der Straße in Pirna und erklärte: »Ich fühle mich unwohl, fassungslos und besorgt bei dem Gedanken, einen Oberbürgermeister von der AfD aushalten zu müssen.«

Ähnlich geht es vielen. Im Aufruf des Aktionsbündnisses hatte es geheißen: »Rückwärtsgewandte, einfache Lösungen, die rechtsextreme Parteien wie die AfD in Sachsen anbieten, gefährden unsere Gesellschaft. Sie helfen nicht bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen, sondern schüren Angst, Abwehr und Hass.« Lisa Thea Steiner, Regionalchefin des NS-Opferverbandes VVN-BdA, warnte bei der Kundgebung vor Gefahren für die Demokratie: »Faschisten brauchen nur eine Wahl, um sie zu besiegen.« In Anspielung auf ein häufiges Argument, das die Zusammenarbeit mit AfD-Kommunalpolitikern rechtfertigen soll, sagte sie: »Demokratisch gewählt bedeutet eben nicht unbedingt auch: demokratisch gesinnt.« Jakob Springfeld, linker Aktivist aus Zwickau und Autor eines Buches über antifaschistisches Engagement in der ostdeutschen Provinz, fragte, wie trotz rechtsextremer Morde in Kassel, Hanau und Halle ein Vertreter der ebenfalls rechtsextremen AfD Oberbürgermeister werden könne: »Wie kann das sein?!«

Springfeld lobte zugleich das Engagement derjenigen, die Protest gegen Lochner organisierten. »Ihr macht mir Hoffnung«, sagte er und appellierte: »Lasst uns nicht den Mut verlieren.« Dazu rief auch Hannah Schulz von »SOE gegen rechts« auf. Sie freue sich, so viele junge Leute und ehemalige Schulkameraden auf der Kundgebung zu sehen, die ihre Stadt nicht widerstandslos einer rechten Mehrheit überlassen wollten. »Wir gehen nicht weg aus Pirna«, sagte sie, »auch wenn es in Berlin vielleicht einfacher ist.«

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