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Colonia Dignidad: Die Aufarbeitung steckt fest
Die Opfer der Colonia Dignidad werden vom Rechtsnachfolger und den Regierungen vertröstet
Knapp 20 Personen, die sich selbst als »colonos indignados«, also als »empörte Bewohner*innen« der ehemaligen Colonia Dignidad in Chile bezeichnen, blockieren die Zufahrtsstraße, halten selbst gemalte Transparente und verteilen Flugblätter. Sie fordern die Nachzahlung unterschlagener Löhne und Sozialabgaben, die gerechte Verteilung von Land und eine Umstrukturierung der wirtschaftlichen Verhältnisse der ehemaligen deutschen Sektensiedlung, die inzwischen Villa Baviera (Bayerische Siedlung) heißt. Denn die ist als intransparente Aktienholding strukturiert, in der sich Macht und Vermögen auf einige Wenige konzentrieren.
Es war ein außergewöhnliches Ereignis am 17. März. Die Zufahrtsstraße zur
Villa Baviera ist gesperrt. Dutzende Autos von Tourist*innen stauen sich stundenlang. Niemand kommt hinein in die deutsche Siedlung, die inzwischen als touristisches Ausflugsziel mit Hotel und Restaurant im bayerischen Stil bekannt ist.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
»Wir haben eine Besetzung gemacht, weil wir als Colonos (jetzige und frühere Bewohner*innen der Siedlung, Anm. der Autorin) bis heute nicht gehört werden«, sagt Doris Gert. Sie ist in der Colonia Dignidad aufgewachsen, musste von Kindheit an hart arbeiten, wurde geschlagen und mit Psychopharmaka ruhig gestellt. Nach mehreren Fluchtversuchen aus der streng abgeriegelten Siedlung konnte sie diese erst 2004 verlassen. Heute lebt die inzwischen 55-Jährige mit ihrer Familie im 300 Kilometer weiter südlich gelegenen Temuco und macht Gelegenheitsjobs in der Betreuung von Senioren. Mit anderen Opfern der Sekte hat sie sich im Verein Adec zusammengeschlossen. Weil die Leitung der Villa Baviera und ihrer Unternehmen nie zu einem Dialog bereit waren, hätten sie die Straße gesperrt, erklärt Doris Gert. »Wollen wir sehen, ob sie darauf hören. Wenn nicht, machen wir weiter.«
Weder Lohn noch Einzahlungen in die Rentenkasse
Seit der deutsche Laienprediger Paul Schäfer und einige Vertraute 1961 die auslandsdeutsche Siedlung in Chile gründeten, waren viele der 300 Bewohner*innen sexualisierter Gewalt und Zwangsarbeit unterworfen. Über Jahrzehnte erhielten sie weder Lohn noch Einzahlungen in die Rentenkassen. Während der chilenischen Diktatur (1973 bis 1990) kooperierte die Sektenführung eng mit dem Geheimdienst Dina, der auf dem Gelände ein Gefangenenlager errichtete. Hunderte Oppositionelle wurden dort gefoltert, Dutzende ermordet. Ihre Leichen wurden in Massengräbern verscharrt, Aussagen von Siedlungsbewohner*innen zufolge später wieder ausgegraben und verbrannt. Ihre Identität ist bis heute nicht aufgeklärt. Noch immer werden anonyme Gräber auf dem Gelände vermutet, wo Angehörige von Verschwundenen keinen Ort des Gedenkens finden, stattdessen aber ein rustikaler Tourismus floriert.
Ende der 80er Jahre überführte die Sektenführung Güter und Ländereien der Colonia Dignidad in eine Holding verschachtelter Aktiengesellschaften, darunter landwirtschaftliche Betriebe, eine Hühnerfarm, Immobiliengesellschaften und ein Tourismusunternehmen. Fast alle Bewohner*innen sind offiziell Aktionär*innen, doch die meisten haben nichts davon. »Ein einziges Mal habe ich eine Ausschüttung von 600 Pesos (umgerechnet rund ein Euro) gekriegt«, erklärt Doris Gert. Allein die Anreise, um das Geld abzuholen, habe sie allerdings mehr gekostet.
Die Mehrzahl der Aktien und Vollmachten konzentriere sich bei vier Familien, allesamt Nachfahren der Sektenführung, die auch die leitenden Positionen in den Firmengremien besetzen, erklärt der Rechtsanwalt Winfried Hempel (46). Auch er ist in der Colonia Dignidad aufgewachsen. Er fordert, dass alle Colonos ein Stück Land der über 10 000 Hektar großen Siedlung zugesprochen bekommen. Vor allem aber müsse die Firmenstruktur demokratisiert werden. Eine Umfrage unter den 221 noch lebenden ehemaligen Bewohner*innen habe ergeben, dass mehr als Dreiviertel von ihnen wollen, dass die Firmenholding »aufgelöst oder wenigstens radikal umstrukturiert wird, sodass jeder Colono eine Stimme hat«, so Hempel.
Heute leben noch rund 120 Personen in der Siedlung, etwa 100 sind nach Deutschland gegangen, 80 leben in anderen Orten Chiles. »Die Colonos sind heute nicht mehr so unmündig und unwissend wie vor 20 Jahren«, sagt Winfried Hempel. Er ist zuversichtlich, dass die Leitung der Firmenholding auf die Proteste reagieren muss. Aus dem Kreis der Personen, die Leitungspositionen in den Firmen der Villa Baviera besetzen, reagiert einzig die Chefin des Tourismusbetriebs, Anna Schnellenkamp, die sich außerdem in einer »Sozial-AG« für interne Belange der Colonos engagiert, auf Anfrage des »nd«. Sie könne die Not der Menschen verstehen, erklärt sie und spricht sich gegen die Sperrung der Zufahrtsstraße aus. Die offenen Fragen stünden inzwischen auf der Tagesordnung einer außerordentlichen Aktionärsversammlung.
Gedenkstätte auf Eis gelegt
Auf Regierungsebene kommt die Aufarbeitung derzeit nicht voran. (siehe Interview). Im Auftrag einer deutsch-chilenischen Regierungskommission, die seit 2017 regelmäßig tagt, hatte ein deutsch-chilenisches Team von Expert*innen bereits 2021 ein Konzept für einen Gedenk-, Dokumentations- und Lernort in der einstigen Colonia Dignidad erarbeitet. Chiles Präsident Gabriel Boric und Bundeskanzler Olaf Scholz haben sich im Januar 2023 öffentlich für eine Gedenkstätte ausgesprochen. Dennoch hat die chilenische Regierung die Gründung einer Stiftung zu deren Umsetzung kürzlich »auf unbestimmte Zeit verschoben«. »Leider«, heißt es aus dem Auswärtigen Amt dazu, habe »die chilenische Seite nun beschlossen, zunächst eine allgemeine Gedenkstättenrichtlinie zu erarbeiten«.
Der Leiter der Menschenrechtsabteilung im chilenischen Außenministerium, Tomás Pascual, verweist auf die komplexe Lage, dass die Villa Baviera in Privateigentum ist und daher Enteignungs- und Entschädigungsfragen geklärt werden müssen. Er erklärt, die Errichtung einer Gedenkstätte sei »weder gescheitert noch gestoppt«. Faktisch schließt sich jedoch ein Zeitfenster. Die aktuellen Regierungen von Chile und Deutschland, die sich beide zu einer menschenrechtsorientierten Politik bekennen, haben zwei Jahre ihrer Regierungszeit ohne nennenswerte Fortschritte verstreichen lassen und sind dabei, die historische Chance zu vergeben, in ihrer Amtszeit bis 2025 gemeinsam eine Gedenkstätte festzumachen. Diese sei zum »Symbol für die Ernsthaftigkeit der Aufarbeitung« geworden, erklärt der menschenrechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Michael Brand. Er fordert eine direkte Intervention von Außenministerin Baerbock und Bundeskanzler Scholz, um die Gedenkstätte noch zu retten. Denn in beiden Staaten könnten die Bedingungen nach den nächsten Wahlen ungleich schwieriger werden.
Für Winfried Hempel ist es »ganz klar«, dass es eine Gedenkstätte in der früheren Colonia Dignidad geben muss, »die alle Opfergruppen professionell und auf gleicher Ebene darstellt«. Er ist sich in diesem Fall mit Anna Schnellenkamp einig. Diese lobt einen seit 2014 vom Auswärtigen Amt finanzierten Dialogprozess des Teams der Gedenkstättenexpert*innen rund um die Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen Elke Gryglewski mit den Betroffenen. Dieses haben sich das Vertrauen der Opfergruppen erworben, »weil sie es geschafft haben, alle Seiten anzuhören und in den Treffen aufeinander zuzugehen«. Daher solle man ihnen auch Vertrauen für den weiteren Prozess zur Umsetzung einer Gedenkstätte schenken.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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