Kritik der Berliner Sonderabteilung für Armutsbestrafung

Was an der Außenstelle des Amtsgerichts Tiergarten Werktag für Werktag geschieht, ist eines Rechtsstaates unwürdig, erklärt der RAV-Geschäftsführer

  • Lukas Theune, Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV)
  • Lesedauer: 4 Min.
Klassenjustiz – Kritik der Berliner Sonderabteilung für Armutsbestrafung

Lassen wir außer Acht, dass die Besuchszellen, die in der Gefangenensammelstelle im oberen Stockwerk eingerichtet sind und in denen eine freie Kommunikation mit den Inhaftierten kaum möglich ist, schon des Öfteren gerügt wurden und bis heute unverändert blieben. Lassen wir außer Acht, dass sich das »Gericht« in den Räumen der Polizei, nämlich unten links im Erdgeschoss, hineingequetscht in den herrschaftlichen Polizeipräsidiumsbau, befindet, und man an die vom Grundgesetz vorgesehene Gewaltenteilung denken muss, wenn man durch das polizeiliche Foyer seinen Weg Richtung Gericht sucht und eine gut geölte Maschinerie der Gewalten vorfindet, die »Hand zu Hand« von der Festnahme bis zur Aburteilung in Eintracht handelt. Lassen wir auch außer Acht, dass sämtliche Gerichtsverfahren, die dort stattfinden, ohne Öffentlichkeit auskommen, dass man von außen nicht einmal darauf kommt, dass hinter den Türen des Gebäudes am Tempelhofer Damm 12 öffentliche Gerichtsverfahren stattfinden.

Der Kern der Kritik, die völlige Würdelosigkeit der Verfahren an dieser Außenstelle, zielt auf einen anderen Punkt.

Der Geschäftsverteilungsplan des Amtsgerichts spricht neuerdings von »beschleunigten Verfahren, soweit es sich um Verfahren auf Antrag der Amtsanwaltschaft handelt«, um damit die auf Betreiben der CDU-Justizsenatorin ebenfalls stattfindenden Schnellverfahren gegen Klimaaktivist*innen hiervon abzugrenzen. In diesem in Tempelhof verorteten Bereich gibt es nur zwei zuständige Richterinnen: Abteilung 210 und 211. Beide vertreten sich gegenseitig. Mehr Hauptverhandlungen gibt es hier nicht.

Es ist eine Sonderzuweisung für arme Menschen. Richtig, die Strafprozessordnung sieht zwar beschleunigte Verfahren vor. Das steht in Paragraf 417 Strafprozessordnung. Man mag das nachvollziehbar finden. Man mag an der Entrechtung, die mit den beschleunigten Verfahren einhergeht, Kritik üben. Aber darum geht es hier nicht. An keiner Stelle im Gesetz ist die Rede davon, dass für Fälle, in denen das Gesetz ein beschleunigtes Verfahren erlaubt, eine Sonderzuweisung geschaffen werden soll. Das ist eine Berliner Besonderheit. In den Strafbefehlsverfahren etwa würde niemand auf die Idee kommen, nur zwei Richter*innen mit sämtlichen dieser Verfahren zu betrauen. Tatsächlich sind (fast) alle Richter*innen am Amtsgericht Tiergarten mit Strafbefehlsfällen betraut. Anders ist es nur bei den beschleunigten Verfahren in diesen besonderen Fällen der Armutskriminalität.

Die beschleunigten Verfahren finden fast immer ohne Verteidiger*innen statt. Das im Fernsehen vermittelte Bild, dass, wer vor Gericht steht, eine Anwältin an seiner Seite hat, ist falsch. Die meisten Menschen sind unverteidigt vor Gericht. Sie sind allein, sie sind mit einer ihnen fremden, juristischen Sprache konfrontiert, sie sind verunsichert, sie wissen nicht, was sie dürfen, sie trauen sich nicht zu fragen. Das ist der Alltag am Tempelhofer Damm. Es möchte auch niemand, dass sie fragen. Das bringt den Zeitplan ja durcheinander.

Die Europäische Union hat 2016 eine Richtlinie verabschiedet, wonach es allen Menschen möglich sein sollte, eine Anwältin zu bekommen, um nicht allein vor Gericht stehen zu müssen. In den meisten europäischen Ländern ist das längst so, wie Ronen Steinke in seinem Buch »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich« schön dargelegt hat. Nicht aber in Deutschland. Hier gilt nach wie vor die Praxis, dass nur dann eine Pflichtverteidigerin »bestellt« wird, wenn eine hohe Strafe droht. Eine Geldstrafe gilt nicht als schlimm genug. Auch dann nicht, wenn klar ist, dass die beschuldigte Person sie nicht bezahlen können wird und die Strafe stattdessen absitzen muss. Selbst dann, wenn auf die schriftliche Anklageschrift verzichtet wird, wie es im beschleunigten Verfahren möglich ist, gesteht man Angeklagten keine Verteidigerin zu.

Es geht hier darum, ohne viel Aufhebens Menschen hart zu bestrafen, die wegen ihrer Armut straffällig geworden sind. Die etwas gestohlen haben. Oder das versucht haben. Die ein öffentliches Verkehrsmittel genutzt haben ohne Ticket. Weil sie sich das nicht leisten können. Oder weil sie süchtig sind. Es wird hier nichts eingestellt. Es gibt hier keine Sachverhaltsaufklärung, kein Verständnis, keine Suchtprophylaxe, keine Sozialarbeitenden, keinen Versuch zu verstehen oder nach den passenden Antworten zu suchen. Es gibt in den knapp 15-minütigen Verhandlungen auch gar keine Zeit dafür. Das ist der Sinn und Zweck dieser Verfahren. Sie sind eines Rechtsstaates unwürdig.

Dr. Lukas Theune ist Rechtsanwalt in Berlin und Geschäftsführer des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV).

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