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»Bahnen ziehen«: Leanne Shapton und die Kultur des Schwimmens
Über Wasser: Ein sinnliches Buch der ehemaligen Leistungssportlerin und heutigen Künstlerin
Das Berliner Stadtbad Mitte ist »hell und ungewöhnlich luftig für ein Hallenbad«, schreibt eine Kanadierin. Und weiter: »1945 wurde das Bad von zwei Bomben der Alliierten getroffen – möglicherweise von meinem Großvater oder seinen Freunden abgeworfen –, die nicht explodierten.«
Vielleicht war Leanne Shapton vor ein paar Jahren gleichzeitig mit mir im Stadtbad Mitte schwimmen. In ihrem Buch »Bahnen ziehen«, 2012 auf Deutsch erschienen, schreibt die ehemalige Leistungsschwimmerin unter anderem über Bäder, die sie besucht hat – in Schweden, der Schweiz, England oder Kanada. Ein befreundeter Künstler empfahl ihr, in Berlin die alte Halle in Charlottenburg und mein Lieblingsbad in Mitte zu besuchen.
Es geht in ihrem zauberhaften Buch um viel mehr als das Bahnenziehen – um Leidenschaft, Disziplin – und Kunst. Mit einer guten Portion Selbstironie versucht die Künstlerin und Autorin kanadisch-philippinischer Herkunft zu ergründen, warum sie diesem Sport verfallen war. Sie definiert Schwimmen und Wettkampf, beschreibt eine Kindheit und Jugend, die dem Diktum des Trainings folgten. »Ich erinnere mich an die schlichte Tatsache, dass ich, als ich schwamm, immer Schmerzen hatte.« Schmerzen im Knie, beim Atmen, in den Armen und Schultern, im Rücken. Nur beim Wettkampf, manchmal auch beim Training, vergaß sie den Schmerz.
Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.
Warum sollte man sich das antun? Warum jahrelang den Wecker auf halb fünf stellen und (vor allem in kalten Winternächten) zum Training aufbrechen? Diese Fragen beantwortet die heute 50-Jährige auf 324 Seiten. Neben Reflexionen über das Schwimmen finden sich Fotos ihrer Badeanzug-Sammlung und Aquarelle der Autorin. Die Porträts von Schwimmenden, Gerüchen (!) oder Schwimmbädern wirken – wie sollte es anders sein – verschwommen. Shapton spielt, zitiert aus Literatur, bildender Kunst, Fotografie und Illustration. Sie vergleicht, analysiert und philosophiert. Künstler und Schriftsteller hinterfragen sich ständig selbst, schreibt sie, das sei sie gewöhnt. Selbsthass, Zweifel und mentale Blockaden. »Sportler hingegen machen einfach weiter.«
Das unterhaltsame und achronologisch aufgebaute Buch regt an, durch die Meeres-Bilderwelten von Winslow Homer oder Laura Knight zu surfen. Oder staunend durchs Londoner Titanic-Museum zu laufen, zu lernen, was schwedische Schwimmbrillen sind oder warum Schwimmerinnen manchmal zwei Badeanzüge übereinander tragen.
Shapton hat sich aus der Welt der Wettkämpfe verabschiedet, das Gefühl für das Wasser bleibt. Das offene Meer ist ihr unheimlich, wie den meisten Leistungsschwimmern. So sinnlich habe ich noch nie beschrieben gefunden, was Schwimmwettbewerbe ausmacht, so detailliert nie erfahren, wie Schwimmende sich fühlen zwischen Anschlagmatten und Ausschwimmbecken. »Auf dem Trockenen remple ich ständig gegen Dinge, schlage mir Zehen an, verfehle Stühle«, schreibt sie.
Das Zeichnen ist ihr zur neuen Obsession geworden. Leanne Shapton fühlt sich in der Horizontalen am wohlsten, die Füße oben. Ich sehe sie auf einem Sofa liegen, ein Schwimmbad zeichnend.
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