- Politik
- Havanna
Kuba: Krise, Gründerzeit, Überleben
Einerseits gleicht Kuba der sinkenden Titanic, andererseits sprießen Start-ups und Selbsthilfe
Municipio 10 de octubre, im Süden Havannas. Der Verfall der Stadt ist hier noch sichtbarer als in den Innenstadtbezirken, deren schlechter Zustand in der internationalen Berichterstattung regelmäßig kommentiert wird. Mit Pappe zugeklebte Schaufenster, liegen gebliebene Müllberge. Im Regen sehen die Häuserfassaden noch fleckiger aus als gewöhnlich, und die Bürgersteige sind trostlos leer: Etwa eine halbe Million Menschen, etwa 5 Prozent der Bevölkerung, sind seit 2022 aus Kuba ausgewandert. Die meisten von ihnen junge Leute unter 35 Jahren.
Das Ehepaar Pradas hingegen, das mit seinem klapprigen Lada vorsichtig Pfützen und Schlaglöcher umkurvt, dürfte an der Grenze zum Rentenalter stehen. »Das hier ist erst unsere zweite Fahrt«, erzählt Carolina Pradas freimütig und dreht ihr Smartphone mehrmals in der Hand. »Eigentlich vermieten wir Zimmer in unserer Wohnung, aber das lief zuletzt kaum noch. Schon nach der Wahl von Trump 2016 ging der Tourismus stark zurück, und dann kam auch noch die Corona-Pandemie. Da waren ja praktisch überhaupt keine Ausländer mehr im Land.«
Eigentlich hätten sie Agrarwissenschaften studiert, berichten die beiden, aber bereits in den 90er Jahren aufgehört, in ihrem Beruf zu arbeiten. »In der Spezialperiode gab es kein Benzin, um zur Arbeit auf dem Land zu fahren. Und mittlerweile wären die Fahrtkosten höher als das Monatsgehalt, das wir im Betrieb verdienen könnten«, erläutert Enrique Pradas, der hinter dem Steuer sitzt. In der sogenannten Spezialperiode, die mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers 1990 begann und ein Jahrzehnt andauerte, kämpfte Kuba ums blanke Überleben. »Krise ist seitdem eigentlich immer gewesen«, ergänzt Ehefrau Carolina. »Aber weil unsere Wohnung direkt am Malecón liegt, nur zwei Straßen vom Hotel Nacional entfernt, haben wir gut an Touristen vermieten können.«
Paradoxerweise hat der Umstand, dass so viele Kubaner*innen ihren Lebensunterhalt auf diese Weise bestreiten konnten, viel mit dem sozialistischen System zu tun. Der Karibikstaat hat eine viel höhere Wohneigentumsquote als kapitalistische Länder: 85 Prozent der Wohneinheiten auf Kuba gehören den Bewohner*innen, in Deutschland sind es nur etwa 40 Prozent. Doch der harte Lockdown, mit dem die Regierung die Corona-Pandemie bekämpfte und der 20 Monate andauerte, bereitete auch diesem Geschäftsmodell den Garaus.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
La Nave: Kubanisches Uber
Deshalb hat sich das Ehepaar jetzt bei La Nave angemeldet, einer App, die ähnlich wie Uber funktioniert. »Es ist sehr einfach«, erzählt Enrique Pradas. »Man meldet sich mit dem eigenen Wagen an und kann dann Fahrten übernehmen. Die Kunden zahlen bar, wir überweisen eine Kommission an La Nave.« Ehefrau Carolina ist an diesem Tag dabei, weil alles noch ein bisschen neu für ihn ist.
Auch der kometenhafte Aufstieg von La Nave wäre in einem lateinamerikanischen kapitalistischen Nachbarland auf diese Weise eher unwahrscheinlich gewesen. La Nave ist eine der unzähligen Firmen, die seit der Legalisierung kleiner und mittlerer Unternehmen bis zu 100 Angestellten, der sogenannten MiPyMEs (Micro-, Pequeñas y Medianas Empresas), im Jahr 2021 aus dem Boden geschossen sind. Außerhalb Kubas wäre ein derartig lukrativer Geschäftsbereich sofort von einem der internationalen Digitalmonopole übernommen worden. Ausgerechnet unter sozialistischen Bedingungen funktioniert der Markt auch für Kleinunternehmer*innen.
Das größte Hindernis, mit dem kubanische Start-ups wie La Nave zu tun haben, ist heute übrigens nicht mehr die Staatsbürokratie, sondern das US-Embargo. Da die US-Gesetze es verhindern, von Kuba aus auf den Google Play Store zuzugreifen, lässt sich die App La Nave nicht so einfach herunterladen. »Das kann man aber mit einem VPN umgehen«, erklärt Enrique Pradas eifrig.
Noch so ein Paradox: Das Virtual Private Network, das die IP-Adresse des eigenen Rechners zu verschleiern hilft, gilt eigentlich als Methode, mit der Oppositionelle die Internet-Zensur in autoritär regierten Ländern umgehen können. Im sozialistischen Kuba verwendet man VPNs allerdings nicht, um sich frei zu informieren – anders als häufig kolportiert wird, ist der Zugang zu internationalen Medien über das Handy problemlos möglich. Die VPNs erfüllen vielmehr die Funktion, die US-Sanktionen zu umgehen.
Auf die Zimmervermietung angesprochen, kommen die Pradas schnell auf die nächste Online-Plattform zu sprechen. »Natürlich machen wir auch Mundpropaganda, aber die Vermietung läuft in erster Linie über Airbnb«, erzählt Carolina Pradas. »Zur Bezahlung kommt jetzt immer ein Bote aus dem Ausland.« Denn der Zahlungsverkehr ist seit der Verschärfung der US-Sanktionen unter Präsident Trump praktisch ganz unterbrochen. Selbst Überweisungen zwischen innereuropäischen Banken werden blockiert, wenn auf dem Überweisungsbeleg das Stichwort Kuba auftaucht. Doch der Airbnb-Konzern wickelt die Zahlungen für Unterkünfte über spezialisierte Geldtransfer-Unternehmen an die kubanischen Vermieter*innen ab, die sich ihre Einnahmen auf ein kubanisches Devisenkonto, ein sogenanntes MLC-Konto (Moneda libremente convertible), überweisen lassen können. Auf diese Weise wird die kubanische Tourismus-Branche doppelt geschröpft: 15 Prozent der Übernachtungskosten bleiben bei Airbnb, weitere 10 Prozent beim Geldunternehmen.
Solidarische Selbsthilfe
Dort, wo die Afrokubanerin Argelia Fellove wohnt, kann man keine Zimmer an Touristen vermieten. Die LGBTQI-Aktivistin wohnt in einer engen Reihenhaussiedlung in einem Armenviertel Havannas. Politisch gehört sie wohl zu jener kleinen, aber wichtigen Gruppe Kubaner*innen, die regierungsunabhängige Projekte aufgebaut haben, sich aber den Werten der Revolution irgendwie verpflichtet fühlen. Fellove ist Mitgründerin des Kollektivs Afrodiverso, das queere, schwarze Menschen jenseits eindeutiger Geschlechterzuordnungen zusammenbringen und sichtbar machen will. Dieser Tage hat sie im berühmten Callejón Hamel, einem Zentrum der Afrokultur von Havanna, eine Performance mit schwarzen Drag Queens und Kings organisiert. Sie zeigt Fotos von der Veranstaltung.
Kuba hat sich in dieser Hinsicht radikal verändert. In den ersten Jahrzehnten nach der Revolution war die Verfolgung von Homosexuellen brutal. Heute hat Kuba eines der fortschrittlichsten Partnerschafts- und Adoptionsgesetze der Welt, und auch die Gewalt gegen Transsexuelle ist deutlich geringer als in den lateinamerikanischen Nachbarstaaten. In Brasilien oder Kolumbien sind Morde an Trans-Personen auf der Tagesordnung – auf Kuba hingegen hat sich auch das Verhalten der Polizei in dieser Frage grundlegend gewandelt.
Interessanterweise hat die LGBTQI-Bewegung diese Veränderung gemeinsam mit der Regierung – und gegen den Widerstand der Kirchen, aber auch der Jüdischen Gemeinde durchgesetzt. Bei dem gesellschaftlich durchaus umkämpften Referendum 2022 stimmten, bei einer Wahlbeteiligung von 74 Prozent, zwei Drittel der Wähler*innen für das neue Familiengesetz.
»Natürlich waren wir als Community an der Ausarbeitung des Gesetzes beteiligt«, sagt Fellove, und der Stolz auf diese Leistung ist ihr anzumerken. Es war vielleicht das erste Mal, dass eine gesellschaftliche Bewegung, die vom kubanischen Staat lange offen bekämpft worden war, die Staatsführung zu einem echten Kurswechsel bewegen konnte.
Im Viertel widmet sich Argelia mit ihrer Partnerin aber einer anderen Aufgabe. »Es gibt so viele bedürftige Menschen hier bei uns, vor allem die Alten. Das Geld reicht nicht zum Essen, und Medikamente sind zwar eigentlich kostenlos, aber kaum zu bekommen.« Fellove hat deshalb ihre winzige Wohnung in einer proletarischen Reihenhauszeile in eine Suppenküche verwandelt. »In der Pandemie konnten viele Nachbar*innen gar nicht mehr essen kommen. Deswegen haben wir angefangen für die Ärmsten hier zu kochen. Oft machen wir für 70 Leute Essen. Die Zutaten organisieren von uns, manchmal kriegen wir auch Spenden von anderen Nachbar*innen.« Vor dem Haus steht ein kleiner Elektro-Roller, mit dem das Paar das Essen auch ausliefert.
Ob sie es nicht als Problem sehe, dass sie eine Aufgabe übernähmen, um die sich eigentlich der Staat kümmern sollte? Fellove widerspricht. »Die Wirtschaftskrise ist dramatisch. Die Lebensmittelpreise auf dem Markt können sich viele nicht leisten. Aber die Regierung hat ja offensichtlich auch keine Mittel. Deswegen habe mein*e Partner*in und ich die Initiative übernommen, so wie das andere Kubaner*innen auch tun.«
Die verteilen nicht nur Lebensmittel und Medikamente, sondern organisieren auch Kinderaktivitäten. »Wir wollen Kreativität und Werte fördern.« Mit Werten ist in erster Linie der Solidaritätsgedanke gemeint. Denn die Marktreformen haben zwar die kubanische Wirtschaft aktiviert, aber dafür auch die Gesellschaft zerrissen. »Die soziale Ungleichheit wächst spürbar«, sagt Fellove mit ihrer eher männlichen, tiefen Stimme. »Manche verdienen jetzt mit ihren Geschäften ganz gut. Aber alte und behinderte Menschen können natürlich gar kein Geschäft aufbauen.« Und auch die Unterschiede zwischen weißen und schwarzen Kubaner*innen kommen dadurch wieder stärker zur Geltung. Wer in schöneren Wohngegenden lebt, kann Zimmer vermieten; wer Verwandte im Ausland hat, bekommt Devisen geschickt. Beides trifft auf weiße Kubaner*innen eher zu als auf schwarze. Die alten sozialen Unterschiede, die das Land vor der Revolution prägten, kommen damit wieder stärker zum Tragen. Doch Fellove lässt sich davon nicht entmutigen. Auch wenn ein Teil der Gesellschaft in den Business-Modus übergegangen ist, versucht sie das Land weiter zu gestalten.
Auch Armeegeneräle verarmen
Apropos soziale Spaltung: Die letzte Fahrt, diesmal nicht über La Nave, sondern vermittelt über einen Nachbarn. Der Fahrer des Pkw entpuppt sich als pensionierter Militär. Genauer gesagt: Brigadegeneral – und glühender Anhänger Castros. Weil die Rente nicht reicht, fährt er nun ebenfalls Taxi. Selbst die vermeintliche Nomenklatura ist von der Krise betroffen. Kuba mag auf dem Weg zur Marktwirtschaft sein; vom kapitalistischen Wahnsinn ist die Insel noch ein gutes Stück entfernt.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.