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Bayers Fußballer können das Ende von »Vizekusen« nicht erwarten
Am Sonntag wollen die Rheinländer ihre erste Meisterschaft feiern. Und das bitte selbst, auf dem eigenen Rasen
Xabi Alonso musste grinsen, als er sich am Donnerstag zu vorgerückter Stunde auf den Heimweg machte. Der 2:0-Erfolg im Viertelfinalhinspiel der Europa League gegen West Ham United war eine knappe Stunde alt, es ging gegen Mitternacht – und Leverkusens Cheftrainer grüßte in die Runde. »Bis morgen!«, rief er und zeigte schmunzelnd auf das Podium im Presseraum der BayArena. Dorthin also, wo er wenige Stunden später schon wieder sitzen würde. Diesmal, um über die anstehende Krönungsmesse für sein Team zu sprechen.
Am Sonntag können Leverkusens Fußballer deutscher Meister werden, zum ersten Mal in ihrer 120-jährigen Klubhistorie. Sofern die Bayern gegen Köln und Stuttgart gegen Frankfurt nicht beide patzen und die Rheinländer so bereits am Samstag mit dem Titel beschenken, hat es die Werkself zum Wochenendausklang im eigenen Stadion gegen Werder Bremen selbst in der Hand. »Es ist klar: Wenn wir gewinnen, sind wir Meister«, erläuterte Señor Alonso sodann auf der zweiten Medienrunde am Freitagvormittag die Sachlage, ehe er seinen Plan für die Partie gegen die Hansestädter umriss: »Wir müssen Vollgas geben. Es sind 90 Minuten, um etwas sehr Spezielles zu erreichen.«
Sehr besonders ist dabei auch das Zahlenwerk, mit dem seine Mannschaft ihren atemberaubenden Erfolgslauf garniert. Seit 42 Pflichtspielen ist sie mittlerweile ungeschlagen, gegen Bremen könnte sie den Rekord des Klubs Juventus Turin einstellen, der zwischen 2011 und 2012 gleich 43 Mal hintereinander unbesiegt blieb. Jonas Hofmann wusste nach dem Erfolg gegen West Ham schon gar nicht mehr genau, bei welcher Seriennummer das Team in dieser sagenhaften Reihe inzwischen angekommen war. Es war ihm auch nicht wichtig, schließlich geht es vornehmlich darum, den Titelkampf zu entscheiden.
Und das am besten selbst – auf dem Platz. Keiner im Team sei schon mal deutscher Meister geworden – »und da willst du«, merkte Hofmann an, »die Emotionen rauslassen und das zusammen mit der Gruppe, mit der du das geschafft hast. Nicht auf der Couch mit einem Glas Wasser, einen Tag, bevor du selber spielst.«
Hofmann selbst wurde in Sachen aktiver Einsätze auf dem Platz zuletzt recht knapp gehalten, gegen West Ham durfte der 31-jährige Mittelfeldakteur erst eine Viertelstunde vor Schluss mit der Rasenarbeit beginnen. Prompt entpuppte er sich beim aufreibenden Zermürben des Londoner Abwehrbollwerks als derjenige, der es brechen konnte: In der 83. Minute erzielte Hofmann das 1:0, in der ersten Minute der Nachspielzeit legte er dem mit ihm eingewechselten Victor Boniface zum 2:0 auf. Bayers neuer Spitzname »Laterkusen« war erneut frisch aufpoliert: Allein in diesem Jahr trafen die Rheinländer nun bereits neunmal erst, nachdem die 90 regulären Minuten abgelaufen waren. In aller Regel waren es spielentscheidende Tore.
Ebenso auffallend ist die enorme Qualität, die sich durch den gesamten Kader des souveränen Liga-Primus zieht. Gegen West Ham beorderte Trainer Alonso im Vergleich zum 1:0 fünf Tage zuvor bei Union Berlin gleich sieben neue Spieler in seine Startelf, ohne dass es dadurch irgendeinen Bruch in der Passgenauigkeit, der eleganten Wucht oder im exzellenten Pressing seines Teams gegeben hätte.
»Wir haben einen Kader, in dem eigentlich jeder in die Startelf gehört«, beschreibt Mittelfeld-Lenker Granit Xhaka das fußballerische Gesamtkunstwerk, das Sport-Geschäftsführer Simon Rolfes und Alonso seit dem vergangenen Frühjahr mit ihrer sehr gezielten Personalpolitik geschaffen haben. Der Lohn all dieser Bemühungen: »›Vizekusen‹ wird bald keiner mehr sagen. Der Begriff ist mir ohnehin ein bisschen auf den Keks gegangen«, frohlockt Leverkusens langjähriger Sportchef Rudi Völler, das Image des ewigen Zweiten nun endlich abzulegen.
Völler ist zwar mittlerweile Sportdirektor des DFB und hat dort seinen Vertrag gerade bis 2026 verlängert. Am Donnerstag saß er aber neben Bayer Leverkusens Geschäftsführer Fernando Carro auf der Tribüne. Gemeinsam lauschten die beiden, wie die euphorisierten, dem ersehnten Titel entgegenfiebernden Fans ihr Team mit Meistergesängen in den Abend geleiteten.
»Wir haben alle Gänsehaut bekommen bei dem, was da gesungen wurde – und was von uns erwartet wird«, erzählte Jonas Hofmann. Und Teamkollege Xhaka fügte hinzu: »Wir wissen, dass wir am Sonntag Geschichte schreiben können. Für den Verein, für die Fans, auch für uns selbst.« Die dezente Warnung des Schweizer Rekordnationalspielers, gegen Bremen nicht übermotiviert, sondern so geduldig und kompakt wie während der gesamten Saison aufzutreten, rief dann aber noch kurz seinen Trainer auf den Plan.
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»Ich werde morgen mal mit ihm sprechen«, kündigte der 42-Jährige Alonso mit einem verschmitzten Lächeln an – und stellte klar: »Bei uns gibt es keine Ups und Downs. Wir sind sehr stabil im Kopf, sind motiviert, aber nicht übermotiviert. Weil wir wissen, was wir wollen.« Sprach’s und versicherte mit Blick auf die Partie am Sonntag gegen Bremen: »Die Vorfreude bei uns ist super, sie könnte nicht größer sein.«
Die örtliche Politik ist auf den Fall der Premieren-Meisterschaft auf jeden Fall vorbereitet. Vor dem – balkonfreien – Leverkusener Rathaus wehen seit einigen Tagen vier leuchtend rote Bayer-Fahnen im Wind. Dazu ließ Oberbürgermeister Uwe Richrath (SPD) unter der Woche via Pressemitteilung ausrichten: »Wir werden unsere Stadt in Schwarz und Rot herausputzen, wo es nur geht. Mit den Bayer04-Fahnen vor dem Rathaus, mit Fahnen auf den Balkonen und in den Gärten, mit Schals und Trikots.« Abgesehen davon würden der Mannschaft für Sonntag selbstverständlich fest die Daumen gedrückt, damit sie »uns allen in Leverkusen diesen großen Traum erfüllt«.
Mit dem nahenden Meistertitel wären allerdings längst noch nicht alle schwarz-roten Träume erfüllt. Im Anschluss an das Duell mit Werder stehen noch fünf weitere Ligaspiele auf der Agenda. Vor allem aber gehen die Leverkusener am 25. Mai auch als haushoher Favorit ins Berliner Pokalfinale gegen den abstiegsbedrohten Zweitligisten Kaiserslautern. Und auch in Sachen Europa League sind auf dem Weg zu einem möglichen dritten Titel in dieser glorreichen Saison nicht mehr allzu viele Schritte zu absolvieren.
Am kommenden Donnerstag starten die Rheinländer zunächst einmal in London mit zwei Toren Vorsprung ins zweite Viertelfinalduell mit West Ham United – und im Optimalfall führt sie ihre europäische Reise im kommenden Monat erneut in die nordwestliche Ecke des Kontinents. Am 22. Mai findet in Dublin schließlich das Finale der Europa League statt, und Granit Xhaka strafft sich angesichts dieses denkbaren Programms innerlich schon mal.
»Viele Bayer-Fans hoffen, dass wir am Sonntag hier stehen und ein bisschen was feiern können. Aber es gibt nicht allzu viel zu feiern – weil es weitergeht. In der Meisterschaft, im Pokal und hoffentlich auch in der Europa League«, betont der 31-jährige Eidgenosse. Ganz im Sinne des ambitionierten Basken Xabi Alonso, dessen Team seit Mai 2023 ungeschlagen ist – und der mit Blick auf die verbleibende Saison sagt: »Es ist nicht bewiesen, dass wir in dieser Saison überhaupt einmal verlieren müssen.«
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