Kritik an der VWL: »Man spricht von unsichtbaren Kräften«

Dogmatisch und unwissenschaftlich: Der Historiker Daniel Weißbrodt nimmt die Volkswirtschaftslehre auseinander

  • Interview: Tobias Prüwer
  • Lesedauer: 7 Min.
Ökonomen bei der Arbeit? Die Volkswirtschaftslehre verfahre mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit »wie ein Modelleisenbahner, der sich über seine Platte beugt«.
Ökonomen bei der Arbeit? Die Volkswirtschaftslehre verfahre mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit »wie ein Modelleisenbahner, der sich über seine Platte beugt«.

Wie kommt ein Historiker auf die Idee, sich die Volkswirtschaftslehre (VWL) anzuschauen?

Ich habe mich mit dem bedingungslosen Grundeinkommen beschäftigt und dabei natürlich geschaut, was die VWL dazu sagt. Ihre Ablehnung beruhte allein auf intuitiven Annahmen, für die ohne kritische Prüfung argumentiert wurde. Beim näheren Anschauen stellte ich fest, dass in der VWL keine Theoriediskussion stattfindet.

Obwohl diese Kern jeder Wissenschaft sind?

Genau, das war mir als Historiker unbegreiflich. Beim Grundeinkommen wurde eine Scheindebatte geführt. Die Marktwirtschaft funktioniere nicht mehr, hieß es. Keiner gehe mehr arbeiten, ohne das zu begründen. Ich fragte mich, von welchem Menschenbild sie ausgehen. Da studierte ich zwölf Lehrbücher, darunter vier von Nobelpreisträgern, um ein Bild vom heutigen Stand der VWL zu erhalten.

Das war das Bild einer ideologisch basierten Pseudowissenschaft, in der Kritik nicht vorkommt?

Es gibt Lehrbücher, die gar nicht auf verschiedene ökonomische Schulen eingehen. Andere stellen auch feministische und marxistische Ökonomie vor, beschränken sich aber auf wenige Seiten. Es wird nichts problematisiert oder Konsequenzen für eigene Annahmen gezogen. Manchmal gehen sie kurz auf die Kritik am Menschenbild des Homo oeconomicus ein. Da heißt es, man könne dieses nur eingeschränkt verwenden, um dann zwei Seiten weiter wieder ausschließlich mit der Nutzenmaximierung zu argumentieren.

Interview

Daniel Weißbrodt ist freier Autor und Historiker in Leipzig sowie seit 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Romano Sumnal e. V. – Verband der Roma und Sinti in Sachsen. Im Verlag Springer Gabler erschien sein Buch »Die Volkswirtschaftslehre als empirische Sozialwissenschaft: Eine Bestandsaufnahme« (2023, 364 S., 44,99 €).

Nutzenmaximierung gilt als das Motiv menschlichen Handelns?

Das geht maßgeblich auf Gary Becker zurück. Er wurde für seine Annahme, dass sämtliches menschliches Verhalten sich aus dem Homo Oeconomicus ableitet, mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Wir streben demzufolge immer nach der Nutzenmaximierung. Daraufhin gab es Kritik. In manchen späteren Auflagen wird der Homo Oeconomicus einfach nicht mehr benannt, das Prinzip aber bleibt erhalten. Das lässt sich auch an der »Tragödie der Allmende« beobachten.

Mit der sich das Privateigentum begründet: Hätten alle Zugriff auf begrenzte Ressourcen, wären die bald alle.

Das wurde von Elinor Ostrom widerlegt. Seitdem tritt das Modell versteckt auf, bleibt aber Basis der VWL. Man kann nicht Kritik anerkennen oder eine Theorie problematisieren, ohne dass das theoretische Auswirkungen hat. Das ist wissenschaftliche Unredlichkeit.

Sie kritisieren den Wirtschaftskreislauf?

Das ist ein Modell, das die VWL völlig unkritisch voraussetzt, womit sie sich im mechanistischen Weltbild und im Maschinendenken befindet. Sie konstruiert ein imaginäres Gebilde einer Wirtschaft mit eigenen Rechten und Bedürfnissen.

Statt in der Realität zu untersuchen, wie Menschen wirtschaften, weiß die VWL das im Voraus?

Sie gehen von Alltagswahrnehmungen von Arbeit, Wohlstand usw. aus und bauen ein reduziertes Modell. Und was sich dort nicht abbilden lässt, findet nicht statt. So ist häusliche Pflege eben keine Arbeit. Der Wirtschaftskreislauf sieht auf der einen Seite die Haushalte, auf der anderen Seite Unternehmen. Die Möglichkeit von Kapitalkonzentration in den Händen Einzelner wird ausgeblendet, kleine Unternehmen werden mit Konzernen gleichgestellt. Die Verschiedenheit von armen und reichen Haushalten wird nicht bedacht, Machtfragen können nicht abgebildet werden. Individuen verschwinden, wenn sie in Haushalten zusammengefasst werden. Und alle haben das vermeintlich gleiche Ziel, ihr Einkommen zu erhöhen.

Deshalb müsse der Markt in Ruhe gelassen werden, so die VWL?

Nimmt man das Modell ernst, dann ist das notwendige Konsequenz. Aber diese Zwangsläufigkeit hat nichts mit der Realität zu tun. Dabei ist die Aufgabe von Wissenschaft zu prüfen und sich vom eigenen Weltbild zu lösen. Es ist gut möglich, dass ich in einigen Punkten irre. Dann muss man das nachweisen und diskutieren. Ohne wissenschaftliche Begründung und Methode geht es jedenfalls nicht. Wir müssen die Begriffe exakt definieren, nicht von Alltagswahrnehmungen ausgehen.

Warum bemerkt das niemand in der VWL?

In den Lehrbüchern wird immer wieder auf die besondere Qualität des ökonomischen Denkens verwiesen. Ohne dieses könne man ökonomische Zusammenhänge nicht verstehen. Damit werden die Modelle als sakrosankt und unangreifbar hingestellt.

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Eine Selbstimmunisierung: Wer Kritik übt, hat es nicht verstanden?

So in etwa. Das betrifft auch den Umgang mit anderen Wissenschaften. Die VWL begreift sich als Königsdisziplin. Da gibt es ein starkes Selbstbewusstsein, das noch niemand erschüttert hat. Sie sind diejenigen, die Diagnosen ausstellen und der Politik Rezepte ausstellen. Die VWL sagt, man könne wirtschaftspolitische Ziele wie Vollbeschäftigung oder Inflationsbekämpfung durch die Stabilisierung des Kreislaufs erreichen. Erkenntnis könne man nur am Modell gewinnen, weil die Realität zu komplex ist. Alles, was nicht ins System passt, wird zur Ausnahme erklärt, beiseite geschoben.

Ein Beispiel?

Die Maslowsche Bedürfnispyramide passt nicht in die ökonomische Theorie. Also blendet man aus, dass der Mensch der Psychologie zufolge auch ganz andere Bedürfnisse als materielle hat. Der heutige Ökonom ist wie ein Modelleisenbahner, der sich über seine Platte beugt und scharf nachdenkt, warum der Zug nach München heute zehn Minuten Verspätung hat.

Die VWL bedient historische Fehl-
schlüsse?

Sie leitet vermeintliche Gesetze aus der Geschichte ab und schmettert damit den Einwand ab, dass Wachstum Grenzen hat: Der Mensch habe immer neue Energiequellen erschlossen. Es ist richtig, dass sich der Mensch historisch als sehr anpassungsfähig erwiesen hat. Aber daraus ein Gesetz zu machen, dass er sich auch künftig nie um Ressourcen sorgen müsse, ist unwissenschaftlich.

Das ist der Fortschrittsglauben vergangener Jahrhunderte.

Im Prinzip all diese Fehlschlüsse resultieren aus der Vorstellung eines eigenständigen Gebildes namens Wirtschaft. Das hatten wir vor 150 Jahren auch in der Sprachwissenschaft, nach dem sich Sprache als Gebilde fortentwickeln oder sich im Niedergang befinden kann, das gepflegt werden müsse von der Wissenschaft, nicht den Sprechern. Das ist vorbei, nur in der VWL gibt es dieses mechanistische Denken noch. Das reicht bis in sprachliche Bilder hinein, da ist von Antriebsfedern, Schmiermitteln, Selbststeuerungsmechanismen die Rede. Das aber ist ein mechanisches Uhrwerk oder eine Dampfmaschine.

Die VWL frönt dem Steampunk ...

So könnte man es sich vorstellen. Zusätzlich verdecken vermeintliche Analogien Tatsachen, werden Fakten mit ihrer Illustration verwechselt. Man spricht von unsichtbaren Kräften, die man folglich gar nicht beweisen kann. Metaphern bedienten unser Alltagsverständnis, verschleiern aber. So werden ökonomische Modelle mit Landkarten verglichen. Dabei arbeitet die Kartografie ganz anders, weiß, dass Karten Reduktionen sind, misst nach und verfeinert.

Wir behandeln dieses Gebilde zugleich als Organismus, wenn wir von kränkelnder Wirtschaft, schwachen Märkten und ihren Heilungskräften sprechen.

Wir haben das alle tief verinnerlicht. Stellen wir uns für einen Moment einmal vor, dieses Gebilde gäbe es nicht, dann rückt automatisch der Mensch in den Mittelpunkt – mit seinen Bedürfnissen, Rechten, Fähigkeiten. Und damit der Mensch, der über dieses vereinfachte ökonomische Bild vom männlichen arbeitenden Menschen zwischen 20 und 60 hinausreicht.

Die Soziologie untersuchte, was Menschen wirklich tun, nachdem man dort erkannte, dass man nicht abstrakt von Gesellschaft sprechen kann. Sollte auch die VWL sich der Realität zuwenden?

Genau das wünsche ich mir. Dass wir schauen, wie Menschen tatsächlich wirtschaftlich miteinander agieren, statt am Glauben an ein Modells um jeden Preis festzuhalten. Da stoßen wir permanent auf Dinge, die sich mit dem gängigen ökonomischen Muster nicht erklären lassen.

Zum Beispiel?

Menschen handeln nicht permanent zu ihrem eigenen materiellen Nutzen. Trinkgelder sind damit nicht verständlich, Geschenke ebenfalls auch nicht, Ehrenamt und Kunst jeder Art kann man damit nicht verstehen und erklären. Es dürfte all das gar nicht geben. Zudem geht es bei vielen Bedürfnissen nicht um Besitz, sondern um Status, das kann diese Theorie nicht abbilden, weil sie allein auf materiell zählbaren Besitz fokussiert ist. So wie wir eine humanistische Psychologie entwickelt haben, bräuchten wir eine humanistische Ökonomie mit dem Menschen im Zentrum.

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