- Wirtschaft und Umwelt
- Plattformarbeit
Zwei Schritte vor, einer zurück
Am Mittwoch hat das EU-Parlament der abgeschwächten Plattformrichtlinie zugestimmt
Morgens um sieben Uhr die App öffnen, schauen, ob Aufträge vorhanden sind; annehmen, abarbeiten, abliefern und den nächsten Gig suchen; nach acht oder neun Stunden Arbeit dann Feierabend; der Verdienst bestenfalls etwas über dem Mindestlohn. So sieht der Alltag vieler Plattformarbeiter*innen in Europa aus. Die einen verdienen mehr, etwa Programmierer*innen, die anderen weniger, darunter sogenannte Rider für Lieferdienste oder Haushaltshilfen.
Eigentlich reguläre Beschäftigungsverhältnisse wurden mit der sogenannten Plattformarbeit vielfach als selbständige Tätigkeit eingestuft, mit entsprechenden Folgen für Löhne und die soziale Sicherheit: kein Anspruch auf ein Festgehalt, weder Kündigungsschutz noch Urlaub oder Krankengeld. Das soll sich mit der neuen Plattformrichtlinie ändern, die am Mittwoch vom EU-Parlament nach jahrelangen Verhandlungen und dem sogenannten Trilog-Verfahren mit großer Mehrheit beschlossen wurde.
Und die Euphorie ist groß. »Mit dieser Richtlinie werden bis zu 40 Millionen Plattformarbeiter in der EU Zugang zu fairen Arbeitsbedingungen haben«, sagt die für das Dossier zuständige EU-Abgeordnete Elisabetta Gualmini von der sozialdemokratischen Fraktion S&D zum Ergebnis. »Ich bin stolz darauf, das sagen zu können: Europa schützt seine Arbeitnehmer, sein Sozialmodell und seine Wirtschaft«, preist sie.
Von einer hervorragenden Nachricht für Millionen von Plattformarbeiter*innen spricht auch der Sekretär des europäischen Gewerkschaftsdachverbands, Ludovic Voet. Und die linke EU-Parlamentarierin Özlem Alev Demirel bezeichnet die Entscheidung gegenüber »nd« als überwältigenden Sieg für Arbeitnehmer*innen und ihre Rechte. »Es ist ein Wendepunkt im Kampf gegen die Willkür und Straflosigkeit von Unternehmen und ihren mächtigen Lobbyisten wie Uber, Lieferando und Co.«
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Als größte Errungenschaft gilt, dass die Beweislast für Beschäftigte umgekehrt wird. Denn nun wird grundsätzlich angenommen, dass ein reguläres Arbeitsverhältnis vorliegt. Wichtig sei nur, dass die Arbeiter*innen Tatsachen vorlegen können, die nahelegen, dass die Plattform ihre Arbeit kontrolliert oder steuert, erklärt Ernesto Klengel »nd«. Der Arbeitsrechtler ist Direktor des gewerkschaftsnahen Hugo-Sinzheimer-Instituts. »Das dürfte die Prozessführung in einigen Fällen erleichtern«, betont er.
Auch sollen Unternehmen künftig algorithmische Systeme am Arbeitsplatz nicht ohne weiteres einsetzen können: So sind etwa die Verwendung von Software zur Gefühlserkennung im Job oder die Vorhersage von Streiks per künstlicher Intelligenz untersagt. Zudem gelten nun ein digitales Zugangsrecht für Gewerkschaften und der Schutz von privaten Gesprächen. »Auch wenn diese über digitale Medien des Arbeitgebers geführt werden«, lobt Klengel die Regelung. Das erleichtere, sich gewerkschaftlich zu organisieren.
Kritik an der Richtlinie kam von Unternehmensverbänden. Aus Sorge vor Rechtsansprüchen der Beschäftigten vergäben die Unternehmen weniger Aufträge, gab sich etwa der Verband der Gründer und Selbständigen besorgt. In Deutschland drohten Soloselbständige so in die schlechter bezahlte Leiharbeit abgedrängt zu werden.
Der FDP-Bundesvorsitzende Johannes Vogel hatte eine vorherige Fassung der Richtlinie gar als »einen Angriff auf alle Selbständigen in Europa« bezeichnet. Auch aufgrund einer Blockade der Liberalen war die Regelung auf den letzten Metern verwässert worden. So können Mitgliedsstaaten selbst entscheiden, wie eng sie die Kriterien dafür fassen, wann Plattformarbeit als reguläre Beschäftigung gilt.
Die Mitgliedsstaaten haben zwei Jahre Zeit, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. »Doch für die Politik gibt es keinen Grund, damit so lange zu warten«, sagt Arbeitsrechtler Klengel. Und als Nächstes müsse »das große Defizit der Richtlinie ausgeräumt werden: ihre Beschränkung auf Plattformarbeit. Denn viele Regelungen aus der Richtlinie sollten immer gelten, wenn Algorithmen den Arbeitsalltag bestimmen, nicht nur für die Plattformarbeit.«
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