- Politik
- 70 Jahre Bundesarbeitsgericht
»Wir müssen die liberale Demokratie verteidigen«
Präsidentin Inken Gallner über NS-Aufarbeitung in ihrer Institution, politische Streiks und Grenzen des Arbeitsrechts
Frau Präsidentin Gallner, unter allen Rechtsbereichen: Warum haben Sie sich ausgerechnet für das Arbeitsrecht entschieden?
Ich habe mich schon im Studium mit dem Arbeitsrecht beschäftigt, auch im Referendariat. Für mich fand dort einfach immer das wirkliche Leben statt. Das Arbeitsrecht betrifft viele Millionen Menschen, sowohl auf der Seite der Arbeitnehmer*innen als auch auf der Seite der Arbeitgeber*innen.
Sie sind 1964 geboren, haben in den 80er-Jahren studiert und sind in den 90er Jahren ins Berufsleben eingetreten. Eine Zeit, die von Arbeitslosigkeit und Rezession geprägt war. Hat das Ihren Blick auf das Arbeitsrecht beeinflusst?
Und wie! Die ersten Jahre meiner Tätigkeit waren von unglaublichen Fallzahlen geprägt, weil die Konjunktur so schlecht war. 1996 musste ich im Jahr über 1000 Sachen beim Arbeitsgericht Stuttgart erledigen, wo ich damals tätig war. Es ging überwiegend um Streitigkeiten wegen Kündigungen. Das war für alle Beteiligten schwierig und unwürdig. Die Parteien vor Gericht – Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen – waren erheblich belastet, weil sie so lange auf die Entscheidungen warten mussten. Das hatte gravierende soziale und wirtschaftliche Folgen für beide Seiten. Die einen durften während der Kündigungsschutzprozesse meistens nicht arbeiten. Die anderen mussten die Vergütung trotz der nicht geleisteten Arbeit nachzahlen, wenn die Kündigung unwirksam war. Die Richterinnen und Richter konnten ihre Arbeit nur unter hohem Zeitdruck tun. Wir konnten nicht ansatzweise so sorgfältig und schnell arbeiten, wie wir uns das wünschten.
Inken Gallner, geboren 1964 in Calw, ist seit Januar 2022 Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts und hat den Vorsitz des Ersten Senats inne. Sie ist unter anderem für Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrecht sowie für Vereinigungsfreiheit, Tariffähigkeit, Tarifzuständigkeit und Arbeitskampfrecht zuständig.
Auch die Altersteilzeit wurde in dieser Zeit eingeführt.
Ja, das hat mich sehr beschäftigt. Einer Reihe von Menschen wurde plötzlich gesagt, ihr seid jetzt zu alt, wir wollen euch nicht mehr. Was die Arbeit angeht, seid ihr nichts mehr wert. Die Menschen wurden, wenn sie älter wurden, oder auch, wenn sie lange krank waren, nicht mehr als taugliche Arbeitskräfte betrachtet.
Das Bundesarbeitsgericht ist im April 70 Jahre alt geworden. Welche Rolle spielt das Arbeitsrecht aus Ihrer Sicht für die Demokratie?
Ich bin überzeugt davon, dass es wichtig für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt ist. Nehmen Sie das Arbeitskampfrecht, das gewährleistet, Vereinigungen zu bilden, um die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern. Es geht dabei um Sozialpartnerschaft. Wären wir etwa im Arbeitsleben so gut durch die Pandemie gekommen, wenn sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände beispielsweise nicht über Homeoffice oder Kurzarbeit verständigt hätten? Dazu brauchen wir auch starke Organisationszugehörigkeiten, in den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden. Es genügt nicht, dass Einzelarbeitgeberinnen und -arbeitgeber als Verhandlungspartner*innen zur Verfügung stehen. Mit den starken Verbandsbindungen sind wir nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Jahr 1949 gut gefahren, im sogenannten rheinischen Kapitalismus.
Nach 1945 sollen auch die Arbeitsgerichte noch stark vom Nationalsozialismus geprägt gewesen sein. Wie machte sich das bemerkbar?
Das kann ich noch nicht beantworten. Das Bundesarbeitsgericht ist derzeit Gegenstand eines NS-Aufarbeitungsprojekts, das vom Institut für Zeitgeschichte in München durchgeführt wird und noch im September 2021 von meiner Amtsvorgängerin in Auftrag gegeben wurde. In diesem Projekt werden nicht nur die Biografien der ersten Richterinnen und Richter des BAG erforscht, sondern auch der Einfluss der nationalsozialistischen Ideologie auf die Rechtsprechung. Für das Projekt stellt sich neben der historischen Aufarbeitung der Biografien die Frage, ob die NS-Ideologie in die Rechtsprechung des BAG Eingang gefunden hat.
Woran machen Sie das fest?
Beispielsweise an der Idee der Betriebsgemeinschaft (die nationalsozialistische Vorstellung von einer völkischen Interesseneinheit von Belegschaft und Unternehmen und der Unterordnung der Belegschaft unter den sogenannten Betriebsführer, Anm. Red.). In den nationalsozialistischen Sprachgebrauch eingeführt wurde sie durch das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit. Der Begriff lässt sich jedoch vermutlich auch schon vor dem Nationalsozialismus in der Weimarer Republik nachweisen, möglicherweise mit einem anderen Gehalt. Gerade deshalb werden wir bis zum Projektende abzuwarten haben, ob der Begriff der Betriebsgemeinschaft nationalsozialistisch aufgeladen worden ist im Sinn einer unterwerfenden Terminologie.
Es ist das erste Aufarbeitungsprojekt für das Bundesarbeitsgericht. Ist das nicht etwas spät?
Ich will uns überhaupt nicht in Schutz nehmen. Wir haben spät angefangen, die überaus wichtige Aufarbeitung des Unrechts des Nationalsozialismus auf den Weg zu bringen. Dem hätten wir uns früher stellen müssen. Es gab 2011 schon eine Große Anfrage der Linken zu der NS-Belastung von Berufsrichterinnen und Berufsrichtern des BAG. In der Antwort darauf wurden 15 NSDAP-Mitgliedschaften genannt. Was das Forschungsprojekt angeht, nehmen wir uns als Bundesarbeitsgericht völlig zurück. Wir vermitteln nur Informationen über das Bundesarchiv und andere Archive, in denen sich für das Projekt relevante Akten finden lassen können. Außerdem händigen wir den Forschenden die Akten aus, wenn sie noch in unserem Archiv sind.
Wie beeinflusst das Erstarken völkischer Kräfte aus Ihrer Sicht heute das Arbeitsrecht?
Unmittelbar nicht, meine ich. Die Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen in den Betrieben müssen aber wachsam sein. Sie müssen gemeinsam gegen Ausgrenzung, Extremismus und Menschenhass zusammenstehen. Wir sind als Bundesarbeitsgericht in Thüringen ansässig und leben deshalb im Auge des Sturms. Ich will ganz offen sagen, dass ich über die Correctiv-Recherchen zu dem Treffen in Potsdam und auch über die Vorgänge um Voice of Europe zutiefst entsetzt bin. Ich habe an vielen Demonstrationen teilgenommen. In einer Zeit voller grauenhafter Kriege, Krisen und Grenzüberschreitungen halte ich es für wichtig, Gesicht zu zeigen, auch in öffentlichen Funktionen. Selbstverständlich ist dabei das Mäßigungsgebot zu beachten. Ich will trotzdem sehr klar sagen: Das nach dem Nationalsozialismus Unsagbare darf nicht wieder sagbar werden, nie wieder.
Halten Sie die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung vor solcher Einflussnahme für gut genug geschützt?
Niemand kann von vornherein überblicken, inwieweit sich jemand beugt, wenn sich eine politische Mehrheit verändert oder ein autoritäres System anstelle der liberalen Demokratie und des Rechtsstaats errichtet wird. Wenn sich Menschen ändern oder beugen, ist kein System gut genug geschützt. Wir müssen sehr wachsam sein, die liberale Demokratie und den Rechtsstaat mit allen legalen und legitimen Mitteln verteidigen. Ich halte das europäische und das deutsche Arbeitsrecht allerdings objektiv, sachlich, fachlich und inhaltlich für gut genug gerüstet, um rassistischer und völkischer Einflussnahme standzuhalten.
Wenn wir den Blick auf die Wendezeit richten, das Bundesarbeitsgericht ist nicht ohne Grund nach Erfurt gezogen. Inwiefern hat das DDR-Arbeitsrecht die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung beeinflusst?
Überhaupt nicht, möchte ich sagen.
Und was halten Sie davon?
Da würde ich gerne über das Arbeitsrecht hinausblicken. Ich muss ehrlich einräumen, dass die Gestaltung der Wende im Nachhinein betrachtet schwierig ist, was unsere kollektiven Identitäten als Ostdeutsche und Westdeutsche angeht. Zum Beispiel konnten die Ostdeutschen am Grundgesetz, das ich für eine vorzügliche Verfassung halte, nicht mitverhandeln. Es ist für mich sehr verständlich, dass das Mittel des Beitritts im Nachhinein von Teilen der früheren DDR-Bürgerinnen und -Bürger als nicht völlig selbstbestimmt erlebt wurde, obwohl der Beitritt zur Zeit der Wende gewünscht war. Konfliktbehaftet ist auch der Umstand, dass so viele Führungskräfte aus Westdeutschland geholt wurden, noch viele Jahre und Jahrzehnte später. Ich muss selbstkritisch anmerken, dass ich ja selbst Westdeutsche und bei einem obersten Gerichtshof des Bundes tätig bin, der als erster in Ost- bzw. Mitteldeutschland angesiedelt wurde.
Haben Sie den Eindruck, dieser Umstand hat heute noch einen Einfluss auf den Ort und die Region?
Ich bin seit 2007 überzeugte Wahlerfurterin und -thüringerin und lebe in einem Haus, in dem lauter Ostdeutsche wohnen. Ich sehe, wie die gebrochenen Biografien in den ostdeutschen Familien fortwirken. Es gibt teilweise Traumata, weil Menschen arbeitslos geworden sind, die vorher immer gute Arbeit geleistet haben. Die Lebensleistung der Generationen, die während der Wende zum Beispiel in ihren 40ern oder älter waren, ist nicht genügend anerkannt worden. Die Jüngeren konnten sich leichter auf das neue System einstellen. Ich habe aber sogar bei ihnen den Eindruck, dass sich die traumatischen Erfahrungen der Wendezeit in den Familien nach wie vor beeinträchtigend auswirken können.
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Es gab nach der Wende hohe Arbeitslosenzahlen im Osten, kaum Tarifverträge oder Betriebsräte. Ist das Arbeitsrecht da an seine Grenzen gestoßen?
Ja, praktisch und faktisch. Die Folgen sehen wir noch heute. Im kollektiven Arbeitsrecht ist es leider nicht gut gelungen, die Sozialpartnerschaft und die Bildung von Betriebsräten in einer Weise zu fördern, die den westdeutschen Standards entspricht. Das bedauere ich zutiefst. Es ist wirklich schwierig, dass es in den fünf sogenannten neuen Ländern so wenige Betriebsräte und eine viel zu geringe Tarifbindung gibt. Ich schätze den Begriff der neuen Länder aber ehrlich gesagt nicht.
Welcher Begriff wäre Ihrer Ansicht nach besser?
Wie wäre es mit ost- und mitteldeutschen Ländern? Neue Länder drückt ja gerade den problematischen Beitrittsprozess aus.
Sie haben die geringe Tarifbindung angesprochen. Wie gehen Sie als Gerichtspräsidentin mit dem Machtungleichgewicht zwischen Beschäftigten und Unternehmen um, das ja auch für den Kapitalismus kennzeichnend ist?
Die Arbeitgeber*innenseite kann erhebliche Mittel für wissenschaftliche Institute, Rechtsberatungseinheiten, Zeitschriften, Gutachten und Aufsätze aufwenden. Ich habe aber den Eindruck, dass auch die Gewerkschaftsseite mit wissenschaftlichen Instituten, Rechtsberatungseinheiten, Zeitschriften und Aufsätzen sehr gut aufgestellt ist. Die Sozialpartner handeln wissenschaftlich völlig auf Augenhöhe. Ich selbst versuche, mit beiden Seiten im Diskurs zu stehen.
Wie sieht das konkret aus?
Ich versuche immer, die Texte beider Seiten wahrzunehmen. Das heißt, wenn ich eine klare arbeitgebernahe Veröffentlichung lese, lese ich auch eine der Gewerkschaftsseite. In den Texten werden ja häufig sehr unterschiedliche soziale und wirtschaftliche Interessen aufgearbeitet. Ich schätze Tagungen, auf der alle Bänke des Arbeitsrechts vertreten sind, also Sozialpartner, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Lehrende, Studierende, Richterinnen und Richter. Ich suche aber auch einzeln und gleichmäßig das Gespräch mit den Sozialpartnern. Wenn ich zum Beispiel bei der IG Metall spreche, gehe ich wenige Tage oder Wochen später zu Gesamtmetall oder umgekehrt.
Wie bewerten Sie die aktuelle Debatte über das Streikrecht, die auch von den Unternehmensverbänden in Gang gesetzt wurde?
Hinter dem Tarifvertragsrecht steht letztlich immer das Druckmittel des Arbeitskampfs, beispielsweise in Form von Streiks. Und unabhängig von der aktuellen Diskussion hat dieses Freiheitsrecht aus meiner Sicht gute Arbeit geleistet. Wir alle haben die GDL-Streiks oder die Streiks der Flugsicherheitskräfte erlebt. Die Streiks haben uns ermüdet. Streiks zum Beispiel in den Sektoren der Mobilität, der Gesundheitsversorgung oder der Kinderbetreuung sind nicht nur für die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, sondern auch für die betroffenen Dritten beeinträchtigend und unpraktisch. Aber das Arbeitskampfrecht dient ja dazu, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen weiterzuentwickeln. Und ich finde, das hat in der Geschichte der Bundesrepublik gut funktioniert. Schauen Sie auf Deutschland: Da wurde im europäischen Vergleich über Jahrzehnte sehr selten gestreikt. Andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union hingegen kennen auch Generalstreiks, also politische, nicht unmittelbar tarifbezogene Streiks. In Frankreich wurde in jüngerer Vergangenheit beispielsweise für den Erhalt des Rentensystems gestreikt. Unsere Arbeitskampfregeln in Deutschland sind nach Ansicht der deutschen Rechtsprechung enger. Streiks für Tarifverträge oder bessere Tarifverträge sind möglich, Streiks gegen die politischen Rahmenbedingungen nicht.
An dieser Trennung zwischen politischen und tarifbezogenen Streiks gibt es allerdings auch Kritik, beispielsweise von Theresa Tschenker.
Ja, die These lautet, dass ein politischer Streik erlaubt ist, wenn er auf ein rechtmäßiges politisches Ziel gerichtet ist, das einen Bezug zu den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen hat. Dabei geht es auch um die Kontroverse zwischen Wolfgang Abendroth und Ernst Forsthoff in den 1950er-Jahren. Man kann das damals für die Arbeitgeber*innenseite verfasste Gutachten von Forsthoff so verstehen, dass Bürger*innen nur bei Wahlen Einfluss auf politische Entscheidungen haben sollten. Ein politischer Streik wäre dann ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip. Auch der spätere erste Präsident des BAG Hans Carl Nipperdey hatte sich in einem Gutachten gegen die Rechtmäßigkeit politischer Streiks ausgesprochen. Die Gegenansicht von Abendroth, der das Gutachten für den DGB verfasst hatte, konnte sich in der Rechtsprechung nicht durchsetzen. Allerdings hat das BAG in zwei Entscheidungen aus den Jahren 2002 und 2007 mit Blick auf völker- und menschenrechtliche Garantien zweimal die Frage des Verbots politischer Streiks mit Bezügen zu den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen berührt. Über die Frage wurde aber nicht tragend entschieden.
Derzeit wird auch über die Verlängerung von Arbeitszeiten diskutiert. Sind die Beschäftigten rechtlich davor geschützt?
Die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden ist seit Langem eine rechtliche Realität. Die Wochenarbeitszeit kann auf sechs Tage aufgeteilt werden. Der deutsche Achtstundentag ist möglich. Schon jetzt darf nach europäischem Recht aber täglich länger gearbeitet werden, wenn die Höchstarbeitszeit von 48 Stunden in der Woche nicht überschritten wird und die Ruhezeiten eingehalten werden.
Droht dadurch nicht auch eine Entgrenzung der Arbeitszeit?
Die elfstündige Ruhezeit am Tag, die wöchentliche Ruhezeit von 24 Stunden und die Höchstarbeitszeit von 48 Stunden wöchentlich sind EU-rechtlich vorgegeben. Das sind sozusagen die heiligen Angelegenheiten des Arbeitszeitrechts. Die Diskussion über die Frage der Entgrenzung der Arbeitszeit wird vor allem mit Blick auf die elfstündige Ruhezeit pro 24-Stunden-Zeitraum geführt. Endet sie ganz durch eine kurze Arbeits-E-Mail oder ein kurzes Telefongespräch? Oder wird sie nur unerheblich unterbrochen und dauert danach an? Ich selbst vertrete die Auffassung, dass eine E-Mail oder ein Telefongespräch die Ruhezeit beenden. Ich meine, danach muss noch eine weitere elfstündige Ruhezeit im 24-Stunden-Zeitraum möglich sein. Das ist aber sehr umstritten. Ich wünsche mir deshalb, dass diese unionsrechtlich zu klärende Frage irgendwann dem EuGH vorgelegt wird. Was die von der Arbeitgeber*innenseite gewünschte Reform der Arbeitszeitrichtlinie betrifft, erwarte ich sie im Augenblick nicht. Nach dem Brexit und wegen der vielfältigen Kriege und Krisen hat die Europäische Union im Augenblick drängendere Probleme, als die Arbeitszeitrichtlinie zu reformieren.
Es gibt von linker Seite die Kritik, dass die EU zu viel Gewicht auf die unternehmerischen Freiheiten legt. Würden Sie dem zustimmen?
Ich glaube, das stimmt nicht mehr, jedenfalls nicht ganz. In die Verträge wurde eine sogenannte Soziale Säule eingezogen. Die führt dazu, dass wir jetzt zum Beispiel ein sehr ausgeprägtes Arbeitsschutzrecht haben, was die Belange der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angeht. Zum Arbeitsschutzrecht gehört auch das Arbeitszeitrecht, einschließlich des Urlaubsrechts. Im Übrigen sind die Arbeitsrechtssysteme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in weiten Teilen unionsrechtlich überformt. Ich nenne nur beispielhaft das Antidiskriminierungsrecht, die Entgeltgleichheit von Männern und Frauen, das Betriebsübergangsrecht, das Leiharbeitsrecht, das Entsenderecht, das Befristungs- und Teilzeitrecht, das Massenentlassungsrecht, das Datenschutzrecht und die Mitbestimmung auf Unternehmensebene, soweit es um die Societas Europaea (SE) geht.
Aber ein europäisches Arbeitskampf- oder Tarifvertragsrecht gibt es nicht? Wäre es dafür nicht an der Zeit?
Immerhin haben wir die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit des Artikels 12 Absatz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Sie umfasst auch das Recht jeder Person, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten. Auf der Ebene des Europarats gibt es auch Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der ähnliche Rechte enthält. Einschränkungen dieser Rechte sind nur unter engen Voraussetzungen zugelassen. Aus Artikel 12 der Grundrechtecharta und Artikel 11 EMRK könnten der Gerichtshof der Europäischen Union und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte möglicherweise jeweils eigene arbeitskampfrechtliche Systeme auf den verschiedenen Ebenen Europas entwickeln. Vor dem EGMR in Straßburg sind derzeit in diesem Zusammenhang Menschenrechtsbeschwerden von zwei Arbeitnehmer*innenvereinigungen gegen die Bundesrepublik anhängig. Dort steht die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu den Voraussetzungen der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmer*innenorganisation auf dem Prüfstand. Diese Frage ist nach deutschem Verständnis eng mit dem Streikrecht der Koalition verwoben. Eine Arbeitnehmer*innenkoalition muss nach deutschem Verständnis tariffähig und damit eine Gewerkschaft sein, um streiken zu dürfen.
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