Der konservative Geist lebt fort

Über die Formung des Streikrechts im Nachgang des Nationalsozialismus. Ein Gastbeitrag

  • Theresa Tschenker
  • Lesedauer: 7 Min.
Im deutschen Streikrecht lebt der konservative Geist fort. Der reicht auch in den Nationalsozialismus zurück.
Im deutschen Streikrecht lebt der konservative Geist fort. Der reicht auch in den Nationalsozialismus zurück.

Das deutsche Streikrecht, wie wir es kennen, wurde in den 1950er-Jahren maßgeblich durch den ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, Hans Carl Nipperdey, geformt. Auf sein konservatives Rechtsverständnis geht die bis heute gültige Trennung zwischen politischen und tarifbezogenen Streiks zurück. Dass er derart bleibenden Einfluss nehmen konnte, hängt mit der ebenso einfachen wie erstaunlichen Tatsache zusammen, dass das Streikrecht in Deutschland im Wesentlichen Richterrecht ist. Denn nicht der Bundestag hat ein Gesetz erlassen, das die Rechte und Pflichten während eines Streiks regelt. Vielmehr haben die Gerichte die Koalitionsfreiheit, die in Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes geregelt ist, dahingehend ausgelegt, dass sie auch ein Streikrecht gewährleistet.

Damit ist das Grundgesetz der erste Rechtstext in Deutschland, der ein Streikrecht verbrieft. Darüber herrschte unter den »Müttern und Vätern des Grundgesetzes«, die Abgeordneten des Parlamentarischen Rats, durchaus über alle Parteiengrenzen hinweg Einigkeit. Uneins waren sich die Abgeordneten indes darüber, ob auch der Beamtenstreik und der systemstürzende Streik davon umfasst sein soll. Zwar berieten die Mitglieder des Parlamentarischen Rats zunächst über einen vierten Absatz des Artikel 9, der das Streikrecht explizit erwähnen sollte. Doch beendeten sie die Debatte mit dem Argument, dass es Aufgabe der parlamentarischen Gesetzgebung sei, die Einzelfragen des Streikrechts zu regeln. Dazu ist es allerdings bis heute nicht gekommen.

Darum blieb es Aufgabe der Rechtsprechung, Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes auszulegen und die Leitlinien des Streikrechts zu entwickeln. Nur knapp sechs Jahre nachdem das Grundgesetz in Kraft getreten war, sprach das Bundesarbeitsgericht am 28. Januar 1955 das erste Grundsatzurteil zum Streikrecht.

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NS-Kontinuität am Arbeitsgericht

Viele Arbeitsrechtler*innen, die bereits in der Weimarer Zeit etwa im Gewerkschaftsumfeld tätig gewesen waren, darunter auch die jüdischen und sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Juristen Hugo Sinzheimer, Franz L. Neumann und Ernst Fraenkel sowie der Arbeitsrichter Otto Kahn-Freund, wurden später von den Nazis verfolgt. Teils wurden sie verhaftet, ermordet oder gingen ins Exil, aus dem sie, wenn sie es überlebten, selten nach Deutschland zurückkehrten.

Dagegen hatten die nach 1945 ernannten Richter*innen am Bundesarbeitsgericht keine oder keine schwerwiegenden Verfolgungserfahrungen im NS gemacht. In der BRD waren bis Mitte der 1960er Jahre rund 80 Prozent der staatlichen Stellen wieder mit Jurist*innen besetzt, die bereits im Nationalsozialismus tätig gewesen waren. Und für das Bundesarbeitsgericht hat der als Richter am Landgericht Erfurt tätige Martin Borowsky herausgefunden, dass 14 der ersten 25 Richter*innen am Bundesarbeitsgericht, die während des Nationalsozialismus als Jurist*innen tätig waren, als NS-belastet einzustufen sind. Sie waren teils Mitglieder der NSDAP, aktiv in der SA oder SS, hatten Todesurteile gesprochen und/oder antisemitische Schriften veröffentlicht.

Der Präsident des Arbeitsgerichts, Hans Carl Nipperdey, knüpfte an eine lange Karriere im Arbeitsrecht an, die über den Nationalsozialismus in die Weimarer Republik zurückreichte. Borowsky stuft ihn indes als unerheblich belastet ein. Er soll demnach verfolgte Jüdinnen und Juden unterstützt und keine belastenden Mitgliedschaften in einer NS-Organisation aufgewiesen haben. Allerdings war er Mitglied der Akademie für Deutsches Recht und wirkte aktiv daran mit, das Arbeitsrecht entsprechend der NS-Ideologie umzuformen.

Mit Ausnahme von Nipperdey hatten alle anderen Richter und die eine Richterin am Bundesarbeitsgericht erst während des NS als Jurist*innen angefangen zu praktizieren. Die wenigsten von ihnen waren überhaupt im Arbeitsrecht tätig. Und selbst die beiden Juristen, die sich mit den Problemen des Arbeitslebens befasst hatten, wurden während der Weimarer Republik in einer Gesellschaft ausgebildet, in der ein Grundrecht auf Streik abgelehnt wurde. Während des Nationalsozialismus wirkten sie in einem System, in dem es schlicht keine Gewerkschaften, geschweige denn ein Streikrecht gab.

Dennoch war es diese Gruppe von Richter*innen um Nipperdey, die nach dem Ende der NS-Herrschaft über die Auslegung des Streikrechts zu entscheiden hatte. Und dabei knüpften sie auch an Überlegungen aus der NS-Zeit an. Hatte Nipperdey etwa in seinen Schriften der Weimarer Republik noch vertreten, dass es eine Ungleichheitslage zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt und betont, dass die Weimarer Reichsverfassung den Schutz der Arbeitnehmer und zu diesem Zweck zumindest die Tarifautonomie gewährleiste, änderte sich dies im Nationalsozialismus grundsätzlich. Nun verfolgte er die »Beseitigung des Klassenkampfs« und war damit ganz auf Linie mit der NS-Ideologie, wonach es eine Einheit von Führer und Gefolgschaft im Betrieb gebe, die sogenannte Betriebsgemeinschaft. In der BRD bewertete Nipperdey den Streik dann als ein unerwünschtes Ereignis, denn Arbeitnehmer würden ebenso wie die Arbeitgeber von einer ungestörten Produktion und einer wachsenden Volkswirtschaft profitieren. Die Ideen der Einheit im Unternehmen sowie des gemeinschaftlichen Interesses an wirtschaftlichem Wachstum waren für ihn vorrangig. Dabei verlor Nipperdey kein Wort über die Notwendigkeit des Streiks, der das einzige Mittel der Arbeitnehmer*innen ist, um ihre Ziele wirksam umzusetzen und dem strukturellen Ungleichgewicht zwischen ihnen und Arbeitgeber*innen unter den derzeitigen Eigentums- und Produktionsbedingungen etwas entgegenzusetzen.

Ein prägendes Urteil

Diese konservative Handschrift Nipperdeys kommt dann bereits im ersten Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Streikrecht nach 1945 deutlich zum Ausdruck. Anlässlich des Zeitungsstreiks im Jahr 1952 hatte er ein Gutachten für den Arbeitgeberverband verfasst, in dem er den damaligen Streik gegen die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes als politisch und rechtswidrig bewertete.

Eine solche Auslegung des Grundgesetzes war in den ersten Jahren unmittelbar nach dessen Inkrafttreten zwar durchaus umstritten. So argumentierte beispielsweise Wolfgang Abendroth, der das Gutachten für den Deutschen Gewerkschaftsbund in der Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit des Zeitungsstreiks gefertigt hatte, dass der Streik zum Wesen der Demokratie gehöre. Nach seiner Ansicht dürften die Streikenden nicht nur die Arbeitgeber mit ihren Forderungen adressieren, sondern auch die Gesetzgebung, da der Streik in einer partizipativen Demokratie notwendiger Bestandteil der politischen Willensbildung sei. Doch Abendroth konnte sich in der Rechtsprechung mit seinen Ansichten nicht durchsetzen.

Vielmehr war es Nipperdey, der die Grundzüge des Streikrechts diktierte. Das zeigt sich daran, dass viele Ausführungen des ersten Urteils des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1955 sich mit den Überlegungen Nipperdeys aus seinem Zeitungsstreikgutachten decken. In beiden Texten werden Streiks auf eine Weise bewertet, die auf deren Vermeidung abzielt. Demnach sind sie an sich nicht »sozialadäquat«, weil sie den Arbeitgeber und die Volkswirtschaft schädigten. Nur in bestimmten Konstellationen sei er hinzunehmen: Der an sich unerwünschte Streik wäre nur dann gerechtfertigt, wenn er sich auf Tarifverhandlungen mit dem Arbeitgeber beziehe und wenn er von einer Gewerkschaft getragen sei.

Streik, aber nur tarifbezogen

Mit dem Urteil aus dem Jahr 1955 erkannte das Bundesarbeitsgericht den Streik also zwar das erste Mal in der deutschen Geschichte als rechtmäßig an, aber eben nur in geregelten Bahnen. Die Begründung der Beschränkung des Streiks auf Tarifverhandlungen fiel dabei schwach bis tautologisch aus. Der Streik an sich sei bereits inadäquat und könne daher nur in bestimmten Fällen als »sozialadäquat« akzeptiert werden. Was nun sozialadäquat sei, füllte Nipperdey nach seinen eigenen Vorstellungen mit Leben: Der Streik wird bis heute nur dann als rechtmäßig bewertet, wenn er tarifbezogen ist. Dass der Streik innerhalb von Tarifverhandlungen für die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften notwendig ist, hat das Bundesarbeitsgericht erst mit dessen Urteilen aus dem Jahr 1980 anerkannt, womit es zugleich einen Paradigmenwechsel im Streikrechtsverständnis einleitete.

Doch bis heute misst das Gericht dem Streik mit der Funktion, faire Ergebnisse in Tarifverhandlungen zu erzielen, eine nur begrenzte legitime Wirkweise zu. Es vernachlässigt damit, dass der Streik über das Ergebnis eines Tarifvertrags hinaus die Funktionen hat, Arbeitnehmer*innen ein Mittel an die Hand zu geben, Missstände wirkmächtig in die Öffentlichkeit zu tragen und an der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen mitzuwirken. Der Streik dient nicht nur in Tarifverhandlungen als ein demokratisches Kommunikationsmittel, als eine Form der Selbstermächtigung und als ein Hebel zur Herstellung von materieller Gleichheit. Er hat auch Einfluss auf den politischen Meinungsbildungsprozess, der beispielsweise die Gesetzgebung dazu veranlassen kann, die Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen zugunsten der Arbeitnehmer*innen zu gestalten. Mit diesen Funktionen des Streiks in einer Demokratie hat sich das Bundesarbeitsgericht bislang noch nicht auseinandergesetzt.

Allerdings hatte das Gericht seit dem Paradigmenwechsel in den 80er Jahren über nur einen einzigen sogenannten politischen Streik zu entscheiden. In dem Urteil setzte sich das Bundesarbeitsgericht jedoch nicht mit der Problematik des Tarifbezugs und der Rolle des Streiks in der Demokratie auseinander. Vielmehr wiederholte es lediglich, dass ein Streik, der sich nicht ausschließlich an den Arbeitgeber richte, rechtswidrig sei. So lebt die Einschränkung des Streikrechts aus der Feder von Hans Carl Nipperdey bis heute fort.

Theresa Tschenker ist promovierte Juristin und hat zum Streikrecht in Deutschland geforscht, das sie aus rechtshistorischer und feministischer Perspektive kritisiert. 2023 erschien ihre Studie »Politischer Streik«.

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