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Der vielleicht schönste See der Welt: Lago de Atitlán
Drei Stratovulkane und fruchtbare Hänge umrahmen den See, an dem eine eine jahrhundertealte Maya-Kultur gelebt wird
Er sei »der schönste See der Welt«, soll der Forschungsreisende Alexander von Humboldt einst gesagt haben. Das darf bezweifelt werden, obwohl diese Behauptung munter durch alle möglichen Portale geistert. Doch der Universalgelehrte war nie am Lago de Atitlán. Nicht einmal in Guatemala. Oder Mittelamerika.
Dabei hätte Humboldt vielleicht sogar recht gehabt. Der Gebirgssee im Südwesten Guatemalas wird von den Indigenen als schönster See des einstigen Maya-Reiches gesehen. Aus gutem Grund. Drei Stratovulkane, die nach dem Himmel greifen, umarmen sein stahlblaues Nass, das zuweilen wie geschmolzenes Silber scheint. Fruchtbare grüne Steilhänge, bewachsen mit Avocados, Kaffee, Mais und lichten Wäldern rahmen den Kraftort ein. Dazu eine Handvoll malerischer Siedlungen, die ein wohlmeinender Maya-Gott vor ewigen Zeiten wahllos an die Hänge geheftet zu haben scheint.
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Von Frauen für Frauen
In einem dieser beschaulichen Orte mit unverbaubarem Blick aufs Wasser, in San Pablo La Laguna, leben Yeslin und Sariah. Zweimal in der Woche gönnen sich die Schulmädchen einen knallroten Tuk-Tuk und fahren zum Webunterricht ins benachbarte San Juan La Laguna. In der Lema’ Association erlernen sie mit viel Freude das traditionelle Handwerk der Stoffherstellung, haben schon einige Freundschaften geschlossen.
Mit Unterstützung der Entwicklungshelferin und Ethnologin Katja Winkler gründete Rosalinda Tey im Jahre 2000 diesen Verein von Frauen für Frauen, um die alten Färbe- und Webtechniken am Leben zu halten, dieses fast vergessene, jahrhundertealte Kulturerbe zu bewahren. Und interessierten Frauen den Weg aus der häuslichen Isolation zu ebnen und zusätzliches Einkommen zu erzielen. Traditionelle Trachten genießen eine hohe Wertschätzung bei den Mayas. Die Frauen tragen sie auch im Alltag.
Die Idee kam an. Der winzige Verein wuchs und wuchs. Inzwischen bietet Lema’ sogar Workshops für Touristinnen an. »Wie in den alten Tagen wird auch bei uns heute wieder alles ganz natürlich hergestellt«, erklärt Rosalinda. »Die Baumwolle färben wir ausschließlich mit den Pigmenten einheimischer Früchte, Rinde, Blätter und Blüten, die wir allesamt selbst sammeln.« Das Ergebnis? Die Schals, Blusen, Tischdecken und Hängematten lassen industrielle Färbetechniken mit Chemikalien als beklagenswerten Zivilisationsverlust erscheinen. Die filigranen Motive aus einem Kaleidoskop organischer Farben verwandeln jedes Tuch in ein kunstvolles Unikat.
Der Verkauf der etwas teureren, für europäische Verhältnisse aber immer noch recht preiswerten Artikel, ist eine willkommene wie dringend benötigte Einnahmequelle. Auch für die beiden Mädchen Yeslin und Sariah, die sich so schon ihr mageres Taschengeld aufbessern konnten. Denn die Provinz Sololá gilt als eine der ärmsten Guatemalas. Und dies, obwohl die Natur rund um den 18 mal 10 Kilometer großen Hochlandsee nur so strotzt vor Schönheit, Vielfalt und Reichtum.
See der Maya-Götter
Der Global Nature Fund, der auch Hilfsprojekte am See begleitet, definiert die atemberaubende Natur in beeindruckenden Zahlen: 789 Pflanzenarten gedeihen dort, 61 davon endemisch. 141 Säugetierarten streifen um den See. Darunter recht merkwürdige Gesellen wie die Guatemala-Hirschmaus, der Geoffroy-Klammeraffe oder der Baumbewohnende Ameisenbär.
Die mit Eichen und Kiefern bewachsenen Hänge der majestätischen Dreitausender-Vulkane Atitlán, Tolimán und San Pedro sind das Biotop von stattlichen 116 Reptilien- und Amphibienarten. 236 Vogelarten fliegen durch die klare Bergluft. Zu den schönsten zählt sicherlich der scharlachrot- und grüngefiederte Nationalvogel Guatemalas, der Quetzal.
Wer die Flora und Fauna mit all seinen Sinnen erleben möchte, schnürt am besten seine Trekkingschuhe. Zu einer Tageswanderung durch die Reserva Natural Atitlán, einer ehemaligen Kaffeeplantage. Die Chance, einem Quetzal zu lauschen oder gar vor die Linse zu bekommen stehen gut. Oder mit der vielleicht schönsten Kurzwanderung über 362 Stufen zur neu erbauten und liebevoll bemalten Aussichtsplattform? Mit Blick auf den See und die quirlige Siedlung San Juan La Laguna, die mit ihren fassadenfüllenden Graffitis, den einladenden Cafés und Gästehäusern, den bunten Regenschirmen über ihren Gassen und der Frauenkooperative bekannt geworden ist.
Ein Momentum Magie
Frühaufsteher, die eine größere Herausforderung suchen, werden vielleicht dem »Maya-Gesicht« auf der Nase herumtanzen wollen. So nennen die Locals den knapp 3000 Meter hohen Indian Nose Peak. Per aspera ad astra. Ein rauer Weg führt zu den Sternen. Belohnt wird der kräftezehrende Aufstieg in bitterkalter Nacht mit einem Momentum Magie. Im ersten Licht des Tages scheint sich Atitlán, »der Ort des vielen Wassers«, in ein Gewand aus Gold zu hüllen. Um dieses ein paar Augenblicke später im Licht der aufgehenden Sonne wieder abzustreifen.
Bei einem Gleitschirmflug, ob Tandem oder Solo, wechselt man mit viel Adrenalin im Blut in die schwerelose Quetzal-Perspektive und nutzt die anspruchsvolle Thermik des Geländes. Ganz nah dran hingegen sind Freizeitsportler beim Stand-Up-Paddling oder Kayaking. Rundherum grüne Wälder, unterm Kiel tiefes Blau und das mulmige Gefühl, über bis zu 325 Meter tiefem Caldera-Grund zu paddeln. Gut möglich, dass der Krater noch viel tiefer ist, sagen die Fischer. Alle Geheimisse hat der See der Maya-Götter wohl noch nicht preisgegeben.
Besonders nah fühlt man sich den Mayas, ihren Ritualen und der Schöpfung einen Steinwurf vom See entfernt, auf dem Friedhof von Chichicastenango. Dieser Gottesacker ist fürwahr kein Ort der Trauer, sondern des puren Lebens. Gelb, Lila, Rot, Blau, Grün und Orange leuchten die einfachen Kreuze, die flachen Betongräber und die stattlichen Mausoleen in karibischen Farben. Dazwischen ganze Familien beim Picknick. Kinder lassen Drachen steigen, ein Eisverkäufer bietet klingelnd seine Ware feil. Andere pinseln die Inschriften ihrer Familiengruften nach, in dem festen Glauben, dass alle Materie von Natur aus beseelt und in dem noch festeren Wissen, das nichts Irdisches für die Ewigkeit bestimmt ist. Ganz anders das Leben im Jenseits, hoch oben in himmlischer Sphäre, welche die Seele nach bestandenen Prüfungen in Xibalbá, dem »Ort der Angst« tief unten im Höllenschlund, erreicht.
Schamanen in Hoodies, Jeans und Sneakern arrangieren Opfergaben. Gebäck, Bonbons und Kerzen, wer es sich leisten kann, auch etwas Schnaps. Es geht recht bescheiden zu. Gläubige suchen den Kontakt zu ihren Ahnen, fallen in Trance, scheinen ihn zu finden. Zumindest in ihrer Wahrnehmung. Aber auch die Wahrnehmung ist bekanntlich eine Realität.
Der Weg zurück zum Bus führt vorbei an der katholischen Wallfahrtskirche Santo Tomás, die die spanischen Konquistadoren vor 500 Jahren auf den Grundfesten eines Mayatempels errichteten. Auf den 18 steinernen Stufen des alten Tempels, der die 18 Monate eines Sonnenjahres symbolisiert, räuchern Mayapriester den Eingang zur Kirche mit Weihrauch ein. Christliche und indigene Rituale haben sich längst vermischt.
Auf den heiligen Stufen beginnt auch einer der buntesten Märkte des Landes. Angeboten wird alles an Obst und Gemüse, was die fruchtbaren Felder rund um den Atitlán See hergeben. Für unzählige Hühner, Gänse und anderes Federvieh wird es der letzte Markttag gewesen sein. Neben Klatsch und Tratsch bedienen die Bäuerinnen einheimische Kundschaft. Besucher aus Übersee zieht es eher zu den handgefertigten Gürteln und Taschen aus rustikalem Rindsleder und natürlich zu den kunstvoll bedruckten Mayastoffen. Die Auswahl ist schwindelerregend. Auch die Enge. Hautkontakt gibt es gratis, Taschendiebstahl auch, wenn man Pech hat. Ansonsten sind die Preise moderat bis touristisch. Handeln ist obligatorisch, die Atmosphäre ausgesprochen freundlich.
Merengue im Chicken Bus
Die Fahrt in einem sogenannten Chicken Bus ist ein Muss. Denn kein Fahrzeug symbolisiert Guatemala mehr als diese in schrillem Latino-Popart-Stil getunten ausrangierten Ami-Schulbusse. Drinnen schon wieder Hautkontakt, flankiert von Merengue aus überdimensionalen Lautsprechern, die sogar den ächzenden Motor übertönen. Hühner sind keine an Bord, die Stimmung ist trotzdem grandios. Wenn es der Platz zulassen würde, würde bestimmt getanzt werden. Dann würde man aber einiges verpassen, denn die abenteuerliche Straße hinunter zum See bietet Panoramablicke erster Güte und lässt erahnen, von welchen Urgewalten diese bizarre Topografie einst modelliert wurde.
Als gesichert gilt, dass der Atitlán-See vor rund 84 000 Jahren bei der Explosion eines Supervulkans entstanden ist, die der Welt vermutlich ein Jahr ohne Sommer bescherte. Fest steht, dass die Wasserqualität in den vergangenen Jahrzehnten gelitten hat. »Fehlende, defekte und überschwemmte Kläranlagen, Dünger, den die Bauern auf die Hänge streuen und der beim ersten Regen in den See gespült wird, Altöl, das die Bootsführer gedankenlos über Bord kippen, all das bringt das sensible Ökosystem ins Wanken«, erklärt die Umweltjournalistin Lucia Escobar aus Panajachel, dem größten Ort am See. »Dazu kommt der massive Raubbau am Schilfgürtel, der das Wasser reinigt, der Klimawandel mit weniger Regen und höheren Temperaturen. Eine fatale Mischung. So konnten sich in den vergangenen Jahren immer wieder mal Blaualgen ausbreiten.«
Zwar wird das Wasser des Sees aufgrund seiner enormen Tiefe nach wie vor als insgesamt sauber eingestuft, aber der Weg zurück zum glasklaren Naturjuwel ist ein langer. Und er muss beschritten werden. Sonst steht es schlecht um die Zukunft der beiden Schulmädchen Yeslin und Sariah. Und all der anderen Menschen an den Ufern des Lago de Atitlán.
Die Recherche wurde unterstützt von der Central America Tourism Agency (CATA).
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