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Komische Oper Berlin: Verstehen Sie Spaß?

Der russische Star-Regisseur Kirill Serebrennikov zeigt an der Komischen Oper Berlin Mozarts »Le Nozze di Figaro«

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 8 Min.
Ein starkes Bühnenbild zeigt gleichermaßen die da oben und uns da unten.
Ein starkes Bühnenbild zeigt gleichermaßen die da oben und uns da unten.

Regietheater versus »historische« Aufführung, das scheint, hundert Jahre nach Otto Klemperers Einsatz für das Regietheater an der Berliner Kroll-Oper, immer noch ein Thema, das die Opernfreunde umtreibt – aber mehr wohl die Neokons unter den Rezensent*innen als das Publikum.

An Kirill Serebrennikovs wilder Inszenierung von Mozarts »Le Nozze di Figaro« an der Komischen Oper Berlin haben die Verfechter der Historisierung jahrhundertealter Werke jedenfalls kräftig zu knabbern, denn der russische Regisseur, der auch für Bühnen- und Kostümbild verantwortlich zeichnet, stellt althergebrachte und von der Bourgeoisie lieb gewonnene Opernkonventionen ganz schön auf den Kopf, und eines seiner liebsten Stilmittel tut den Neokons richtig weh: Entzauberung!

Das beginnt beim Bühnenbild. Er arbeitet mit einer zweigeteilten Bühne: Oben sehen wir ein feudales Zuhause von Oberschichtsangehörigen (bei Mozart und seinem Librettisten Da Ponte ein Grafenpalast, bei Serebrennikov eine Reichenwohnung unserer Zeit mit kühler moderner Repräsentationskunst im Jeff-Koons-Kitsch-Stil), im Keller, in der unteren Hälfte der Bühne lebt und arbeitet das Dienstpersonal. Ihr da oben, wir da unten.

Gemach, es geht hier (noch) nicht um Klassenkampf, sondern eher um Druck und Gegendruck. Mozarts Oper ist kein revolutionäres Stück wie seine Vorlage, nämlich Beaumarchais’ von Kaiser Jospeh II. verbotene Komödie – die scharfe Politrede Figaros samt Anprangerung der herrschenden Klasse aus deren fünften Akt hat Da Ponte gestrichen und stattdessen seinem Figaro eine eher dumpfe Chauvi-Arie über den angeblichen Verrat aller Frauen in den Mund gelegt. Eine der schwächeren Nummern der Oper. Da Ponte rühmt sich in seinen Memoiren übrigens, den Kaiser von der politischen Unbedenklichkeit seines Librettos überzeugt zu haben, sodass der Uraufführung am 1. Mai 1786 im Wiener Hoftheater nichts im Wege stand.

Serebrennikov nimmt vor allem zwei wesentliche Änderungen vor: Zum einen rückt er Susanna ins Zentrum der gesamten Oper. Für ihn ist Susanna »diejenige, die wirklich versteht, sich aus allen Problemen herauszuwinden und der Situation mehrere Schritte voraus zu sein«, stellt er im Programmbuch fest. Und nicht zufällig steht Susanna mehr auf der Bühne als alle anderen Figuren, und ihr musikalisches Material ist vielfältiger, auch wenn sie kaum eine große Arie singt, sieht man von »Deh vieni, non tardar« aus dem vierten Akt ab.

Doch Susanna ist das Kraftzentrum dieser Inszenierung, eine pragmatische, intelligente und gerissene Frau, die ein wichtiger Bestandteil des allgemeinen Siegs der Frauen über die Männer in dieser Oper ist, und Penny Sofraniadou gelingt die Auslegung dieser Rolle als einer unaufgeregten, aber jederzeit kämpferischen modernen Frau in Spiel und Gesang einzigartig.

Auch ein Kampf der Geschlechter: »Le Nozze di Figaro«
Auch ein Kampf der Geschlechter: »Le Nozze di Figaro«

Die große Änderung neben der Zurschaustellung des Klassengegensatzes ist die Doppelung beziehungsweise das Splitting des Cherubino in zwei Figuren. Natürlich ist diese Hosenrolle für einen Mezzosopran immer etwas merkwürdig – Cherubino ist ja »das sexuelle Zentrum der Oper, ihr Puls, der für emotionale Intensität und einige überkochende Szenen sorgt«, so der Regisseur. Wie aber soll diese »unwiderstehliche sexuelle Energie«, der Inbegriff des Eros, von einer Frau verkörpert werden, die gezwungen wird, sich in einem engen Männeranzug und hinter einer Maske des anderen Geschlechts zu verstecken?

Serebrennikov löst dieses Problem dadurch, dass er Cherubino zu einem Taubstummen macht, dessen Gebärdensprache nur von seiner »Antithese«, nämlich Cherubina, verstanden wird. Wir erleben Georgy Kudrenko als Tänzer, der sich und seine Gefühle nur körperlich ausdrücken kann (aber wie intensiv ihm das gelingt!), während die ihn liebende Susan Zarrabi ihn gewissermaßen übersetzt und so auch die herrliche Kanzone »Voi che sapete« singen darf, dieses Mozart’sche »Minidrama des in seiner Sexualität erwachenden Jünglings zwischen Lust und Leid« (Ulrich Schreiber), die so leicht wirkende Kavantina, in die Mozart immer wieder raffinierte und geradezu geheimnisvolle Verrückungen eingebaut hat.

Sicher, durch die Doppelung in Cherubino/Cherubina verliert die Oper auch etwas von der ihr innewohnenden, versteckten Queerness, die dem Jüngling, der eigentlich eine Frau ist und Frauen liebt, eignet. Aber der Gewinn ist ein weiteres Paarmodell: junge Menschen, die unter unerwiderter Liebe leiden, aber im Verlauf des Stücks zueinanderfinden. Dramaturgisch ergibt das allemal Sinn.

Und die Hauptfiguren, Graf und Gräfin Almaviva? Die Gräfin ist die eigentlich tragische Figur dieser Oper, in ihrer Einsamkeit und Verzweiflung beklemmend dargestellt und gesungen von Nadja Mchantaf, zwischen Todeswunsch, falls der Ehemann ihr nicht mehr seine Liebe zuwendet (»Porgi, amor, qualche ristoro« – »Hör mein Fleh’n, o Gott der Liebe«), und Erinnerung an vergangene Wonnestunden in ihrer zweiten großen Arie (»Dove sono i bei momenti«).

Mozart lässt die Gräfin hier das Recht des Menschen auf irdisches Glück formulieren. Der Graf dagegen gibt einen sehr wohlhabenden Mann, der sich mit protziger Kunst umgibt und allen Frauen in seiner Umgebung nachstellt – ein unangenehmer, von sich selbst eingenommener Typ, wie gemalt für #MeToo, eine Mischung aus Dominique Strauss-Kahn und Harvey Weinstein, der hier jedoch wie eine Art Goetz’scher Johann Holtrop daherkommt, in seiner eitlen Herrschsucht gleichzeitig total verklemmt, aber eben mächtig und skrupellos (eindrucksvoll, vor allem gesanglich: Hubert Zapiór). Serebrennikov hat ihm einen hündischen Security-Schergen zur Seite gestellt, der mit allerlei Slapstick-Nummern letztlich die absurde Existenz seines Herrn vorführt – es ist ein Vergnügen, Nikita Kukushkin dabei zuzusehen.

Wie überhaupt das Amüsement in dieser Inszenierung mehr und mehr in den Vordergrund rückt. Die gemischten Hilfstruppen, derer sich der Graf und Figaro jeweils versichern, aber eben auch Susanna als wesentlich gewieftere Drahtzieherin lassen die Oper Stück für Stück »von der Individualkomödie in den Klassenkampf übergehen« (Schreiber). Wir erleben eine »ständisch gemischte Schlachtordnung«, was sich auch in der quasi paritätischen Verteilung der Nummern auf Arien (etwa des Grafen) im Stil der Opera seria und von Opera-buffa-Ensembles, also in deren Aufwertung gegenüber traditionellen Opern zeigt. Die Inszenierung macht schlicht Spaß, es ist ein herrliches Vergnügen, zuzusehen und zuzuhören – wir erleben »einen tollen Tag«, wie die Oper in Anspielung auf Beaumarchais im Untertitel heißt.

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Zu diesem Vergnügen trägt wesentlich Mozarts wundervolle Musik bei, und nicht minder ihre Interpretation durch den Chefdirigenten der Komischen Oper, James Gaffigan, und das spielfreudige Orchester. Gaffigan verlässt sich auf die starken Kontraste, die Mozart komponiert hat, sei es in der Charakterisierung der Figuren, zum Beispiel Horn und Streicher-Pizzicati, um den Machismo des eher simpel gestrickten Figaros zu unterstreichen, oder Trompeten und Pauken für den Grafen. Oder er setzt laute und leise Klangflächen gegeneinander, wie es schon die atemlose Ouvertüre hergibt.

Schon Hegel rühmte in seiner »Ästhetik« an Mozarts Musik das »dramatische Konzertieren, wie eine Art von Dialog, wo der Charakter der einen Art von Instrumenten den Charakter der anderen indiziert und vorbereitet, teils eins dem anderen eine Erwiderung gibt oder das hinzubringt, was gemäß auszusprechen dem Klange des Vorhergehenden nicht vergönnt ist«.

Brillant das Finale des zweiten Akts, diese 20-minütige Tour de Force durch alle Klangfarben und Tempi, in der sich der Charakter der Musik ständig ändert. Mozart und Da Ponte agieren hier als Erfinder eines Hitchcock-artigen Suspense-Tricks: Als Zuschauer*innen wissen wir stets mehr als die Akteure. Der Graf vermutet im verschlossenen Boudoir der Gräfin einen Nebenbuhler und lässt die Tür aufbrechen – heraus tritt aber zur Überraschung des Grafenpaares Susanna, die in der Zwischenzeit dem nackten Cherubino zur Flucht verholfen hat (mit einem mächtigen Kopfsprung zum Fenster hinaus).

Mozart friert die Zeit mit einem Dreiermetrum im Molto andante förmlich ein, ehe er das Tempo wieder beschleunigt und zu einem Kettenfinale ausbaut: Figaro taucht auf, dann der Gärtner, jeder stiftet neue Verwirrung, schließlich kommen drei weitere Akteure mit einem Vertrag ins Spiel, die Handlung kippt ins Absurde und Mozart gibt noch einmal Gas und lässt den zweiten Akt in einem wilden Prestissimo enden. Die Handlung ist nur noch ein lächerliches Durcheinander, aber die schillernde Musik ist komplexer als die Handlung und ohne sie wäre auch Serebrennikovs Inszenierung verloren.

Man könnte noch lange über die vielen Ideen und Überraschungen dieser Inszenierung sprechen: Wie nach der Pause der dritte Akt aus im Wortsinn heiterem Himmel mit dem wunderbaren Terzettino »Soave sia il vento« aus »Così fan tutte« eingeleitet wird, einem der schönsten Opernstücke Mozarts überhaupt – und mit seinen magischen Trugschlussharmonien auf dem Wort »desir«, mit denen eine Störung angedeutet wird; irgendetwas stimmt da nicht, nicht mit den Gefühlen der beiden verliebten Schwestern in der »Così« und nicht mit denen des gegeneinander intrigierenden »Figaro«-Personals. An der Wand verkündet eine geschwungene Leuchtstoffröhre: »capitalism kills love«!

In Erinnerung bleibt auch die rot funkelnde Höllenszene und das Serebrennikov’sche Spiegelkabinett im zweiten Teil. Natürlich ist nicht alles an dieser Inszenierung gleichermaßen gelungen. Manchmal wäre weniger mehr, die Musik sagt viel, das nicht ständig durch inszenatorischen Aktionismus gedoppelt werden muss. Dass die Bediensteten sich in der Unterbühne während der Ouvertüre umständlich umziehen müssen, ist eher störend, und der Hochzeitstanz gegen Ende, bei dem alle Frauen ermordet werden, ist schlicht ein Schmarren. Die eingeblendeten Textnachrichten, mit denen die Akteure sich Nachrichten zuspielen, sind dagegen samt allen SMS-typischen Schreibfehlern durchaus lustig und erledigen quasi nebenbei das dramaturgische Problem, wie sich die Handelnden des 18. Jahrhunderts sonst ihre Nachrichten zukommen lassen sollen.

Ich weiß nicht, ob Serebrennikov mit seiner Aussage, »dass das Genre der Oper heute eine tiefgreifende Überarbeitung seitens der Regie und der Dramaturgie erfordert«, grundsätzlich recht hat. Aber wenn die Modernisierung einer Oper aus ihrem Geist heraus erfolgt, wie in diesem herrlichen »Figaro« an der Komischen Oper, dann spricht nichts, aber auch gar nichts dagegen. Ensemble und Publikum folgen dem Regisseur jedenfalls äußerst vergnügt bei dem von ihm angerichteten »tollen Abend«.

Nächste Vorstellungen: 4., 10. und 12. Mai
www.komische-oper-berlin.de

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