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Vergesellschaftung: Theorie oder Praxis?
Seit der Kampagne »Deutsche Wohnen & Co enteignen« ist der Begriff der Vergesellschaftung auf die politische Bühne zurückgekehrt
Liebe Sabine, meinen Glückwunsch, dass Ihr Buch »Keine Enteignung ist auch keine Lösung« vergriffen ist. Weshalb haben Sie sich entschieden, keine zweite Auflage zu veröffentlichen, sondern gleich ein neues Buch zu schreiben?
Das Enteignungsbuch ist schon seit einem Jahr vergriffen, erschienen war es im Herbst 2019. Damals hatte die Berliner Bürgerinitiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« gerade die erste Hürde des von ihr organisierten Volksbegehrens genommen. Zwei Jahre später hat sich dann tatsächlich über eine Million Menschen – das waren 59,1 Prozent der gültigen Stimmen – für die Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen ausgesprochen. Es ist also eine Menge passiert seither.
Hat sich Ihr Fokus vor diesem Hintergrund verändert?
Ja, klar. Die Kampagne war mit dem Enteignungsbegriff aufgetreten, weil das der Wut der Mieterinnen und Mieter entsprach. Enteignung ist kein Kuschelbegriff, Enteignung polarisiert. Die juristische Grundlage, auf die sich die Kampagne bezieht, ist aber nicht Artikel 14 Absatz 3 im Grundgesetz, der die Enteignung ja durchaus vorsieht. Es ist ja bürgerliche Praxis, dass Leute enteignet werden für Kohleabbau oder Straßenbau. Die Kampagne beruft sich aber auf Vergesellschaftung, das ist der Artikel 15 im Grundgesetz. Das ist keine Enteignung.
Sabine Nuss ist Politikwissenschaftlerin, Buchautorin und Journalistin. Schon in ihrer Dissertation »Copyright & Copyriot. Aneignungskonflikte um geistiges Eigentum im informationellen Kapitalismus«, die 2006 erschien, beschäftigt sie sich mit dem Thema Eigentum. Ihr aktuelles Buch trägt den Titel »Wessen Freiheit, welche Gleichheit? Das Versprechen einer anderen Vergesellschaftung« und erschien im Dietz-Verlag.
Aber war es, als Sie das erste Buch geschrieben haben, nicht bereits bekannt, dass sich die Kampagne auf Artikel 15 bezieht?
Ja, aber das drang kaum durch im öffentlichen Diskurs. Erst mit dem zunehmenden Erfolg der Kampagne hat sich das verschoben. Nach der erfolgreichen Abstimmung hatte der Senat eine Expertenkommission ins Leben gerufen, die prüfen sollte, inwieweit die Vergesellschaftung verfassungskonform geht. Und diese Kommission hat nach einem Jahr Prüfung gesagt: Ja, es ist verfassungskonform, und ja, es würde zur Mietensenkung beitragen. Die Kampagne hat Artikel 15 aus dem Dornröschenschlaf gerissen. Aber man sieht, seit meinem Buch hat sich der Wind gedreht, weg von Enteignung, hin zu Vergesellschaftung. Mittlerweile gibt es Konferenzen, es werden bald noch mehr Bücher zum Thema erscheinen, es gibt neue Initiativen, die sich die Berliner Kampagne zum Vorbild nehmen. »RWE & Co« enteignen oder »Hamburg enteignen«, auch sie beziehen sich auf Artikel 15, kürzlich bekam ich sogar eine Anfrage von einer Initiative namens »Vergesellschaftet Bayern!«. Es sieht so aus, als ob der aktuelle Vergesellschaftungshype die Lücke füllt, die bei der sozialen, progressiven Bewegung lange bestanden hat, eine Vision, die verbinden kann, statt zu trennen, und die nicht im »Anti« gefangen bleibt.
Deshalb fokussiert sich Ihr aktuelles Buch auch auf Vergesellschaftung?
Das Buch vollzieht diese Entwicklung gewissermaßen nach. Ich hatte in meinem damaligen Enteignungsbuch den Fokus auf der Frage, welche Vorstellungen von Eigentum sich eigentlich hinter der Kritik und Empörung über Enteignung stillschweigend verbergen. Man stößt hier relativ schnell auf eine sehr stark verbreitete Ideologie, wonach privates Eigentum die beste aller möglichen Welten garantiere, eine Weltsicht, in der nur binär gedacht wird: Privateigentum versus Gemeineigentum. Und Letzteres steht für Stagnation, Misswirtschaft, mangelnde Effizienz, politische Unfreiheit. Diese enge Denkwelt habe ich auseinandergenommen. Ich habe diesen Teil aber gekürzt und teilweise präzisiert. Ich finde ihn wichtig, weil diese Ideologie so allgegenwärtig ist: Wir können alle potenziell Eigentümer sein, sind frei, uns zu entfalten, wir sind alle gleichberechtigt, Verträge einzugehen, unsere Arbeitskraft zu verkaufen und so weiter. Ob und wie viel Eigentum wir anhäufen können, liegt daher ganz an uns selbst, jeder ist seines Glückes Schmied. Und das wird positiv gesehen, denn indem der Einzelne seinen Nutzen steigert, steigert er den Gesamtnutzen. Diese Anschauung repräsentiert den Kern bürgerlicher Ideologie.
Wie spannen Sie den Bogen von der Ideologiekritik zur Vergesellschaftung?
Indem ich kritisiere, wie die Welt betrachtet wird, unterstelle ich ja, dass sie anders funktioniert als wahrgenommen. Damit bin ich bei der Analyse des Privateigentums, ohne die ich meines Erachtens den Vergesellschaftungsartikel im Grundgesetz gar nicht auslegen kann. Artikel 15 besteht ja nur aus zwei Sätzen, im Kern besagt er, dass »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung ... in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden« können. Da sollte man schon eine Vorstellung davon haben, was Privateigentum ist, wenn es in Gemeineigentum überführt werden soll. Die allermeisten Leute aber denken Privateigentum nur als eine juristische Kategorie, es wird auch oft mit persönlichem Eigentum verwechselt. Die ökonomische Dimension von Eigentum geht in der Regel völlig unter. Und was Gemeineigentum ist, also, was eigentlich Vergesellschaftung ist, da sollte man auch nicht meinen, dass das so selbstverständlich ist. Artikel 15 wurde historisch nie umgesetzt.
Sie sprechen in Ihrem neuen Buch von »Vergesellschaftung 2.0«. Was meinen Sie damit?
Vergesellschaftung war die Kernforderung der Arbeiterbewegung in der Novemberrevolution. Der Höhepunkt der Debatte liegt damit etwas mehr als 100 Jahre zurück. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist sie angesichts des Wohlstandsversprechens der Marktwirtschaft und dem dann folgenden Erstarken des Neoliberalismus weggedämmert. Zumindest im Westen. Jetzt lebt sie wieder auf, wenn auch in einem ganz anderen historischen Kontext.
Lassen Sie uns noch mal zur historischen Vergesellschaftungsdebatte zurückkommen. Sie sagen, Vergesellschaftung sei nie umgesetzt worden, obgleich sie doch die Kernforderung gewesen sei. Warum war das so?
Ich bin ja keine Historikerin, aber mich hat beim Eintauchen in diese Zeit überrascht, dass das die Kernforderung war. Man denkt ja immer, dass die Kämpfe für mehr Lohn, für Betriebsräte, für Arbeitsschutzbestimmungen, für Arbeitszeitverkürzung und so weiter im Fokus standen. Aber nein, es war die Demokratisierung der Wirtschaft. Es hat mich überrascht, dass es dafür, dass das so eine zentrale Forderung war, überhaupt kein klares Konzept gab und vor allem, dass man das seinerzeit schon thematisierte und auch vehement kritisierte. Also, was Vergesellschaftung genau sein sollte, darüber existierten so viele verschiedene Vorstellungen, dass Zeitgenossen sagten, es gebe überhaupt kein Konzept. Herauszuarbeiten, warum diese Kernforderung gescheitert ist, dazu bräuchte es eine ausführlichere Analyse, ich habe einige ausgewählte mögliche Gründe in meinem Buch genannt. Einer davon war eben genau jener: Da tut sich im Zuge der Revolution und nach dem Zusammenbruch eines gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs historisch ein Fenster zu einer maßgeblichen Veränderung auf – und man hat keine gemeinsam getragene Vorstellung davon, wie das zu füllen wäre. Dann schließt sich so ein Fenster halt auch rasch wieder.
Welche Kritiken an dem Vorgängerbuch berücksichtigen Sie?
Vor allem den Wunsch nach Präzisierung der Argumentation betreffend habe ich nachgelegt. Beispielsweise ist in meinem Enteignungsbuch für manche nicht deutlich genug geworden, dass Privateigentum und Wachstumszwang zwei Seiten derselben Medaille sind und das mit der historischen Herausbildung von Privateigentum sich auch das moderne Geldsystem herausgebildet hat. Man kann den Wachstumszwang nicht überwinden, ohne das erste aufzuheben und man muss sich auch über die Rolle des Geldes in seiner engen Verbindung mit Privateigentum mehr Gedanken machen. Bezogen auf den Wachstumszwang heißt das: Die Herrschenden haben im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus massenhaft Menschen von ihrem Land vertrieben. Das ist die Vorgeschichte von Privateigentum, das Land sollte profitabler eingesetzt werden. Bis heute gilt: Das eingesetzte Kapital zu vermehren, ist wesentliches Kennzeichen von Privateigentum.
Wie steht es mit dem Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft in Fragen von Eigentum?
Wenn wir Privateigentum nicht auf das Recht reduzieren, andere von etwas auszuschließen, sondern die ökonomische Dimension ebenfalls in den Blick nehmen, dann wird schnell klar, dass wir es mit einer sehr viel umfassenderen Kategorie zu tun haben, die uns die Antwort auf eine wesentliche Frage geben kann: Wie setzen wir Menschen uns bezüglich der arbeitsteiligen Aneignung von Natur zueinander ins Verhältnis? Arbeitsteilige Aneignung meint dann auch, hier vergesellschaften sich Menschen über ihre Arbeit, um sich gemeinsam zu reproduzieren, das heißt, zwecks ihres Überlebens als Gemeinschaft. Oder als Gesellschaft? Genau hier stolpert man auch bei Marx, der beide Begriffe in ihren unterschiedlichen grammatischen Anwendungsfällen auf den ersten Blick nicht ganz konsistent einsetzt. Der Soziologe Ferdinand Tönnies hat diesen Unterschied erstmals systematisch herausgearbeitet. Ich behandle die Debatte nur insoweit, als sie mir notwendig ist für das Verständnis von Vergesellschaftung als theoretisches Konzept.
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