Renten-Pläne: Wer zahlt die Renten der Boomer?

Das Sozialministerium will das Rentenniveau stabilisieren, trotz der Alterung der Gesellschaft. Das bedeutet eine Abkehr von der bisherigen Politik

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 8 Min.
Wenn das Rentenniveau stabil bleibt, werden Beschäftigte zu sehr belastet, bemängeln Kritiker. Doch woher das Geld kommt, entscheidet der Bundestag. Und nicht nur er.
Wenn das Rentenniveau stabil bleibt, werden Beschäftigte zu sehr belastet, bemängeln Kritiker. Doch woher das Geld kommt, entscheidet der Bundestag. Und nicht nur er.

Die Babyboomer werden alt. In den kommenden Jahren gehen deshalb besonders viele Menschen in Ruhestand. Gleichzeitig will Sozialminister Hubertus Heil (SPD) das Rentenniveau nicht weiter sinken lassen, sondern stabilisieren. Doch der Koalitionspartner FDP hat inzwischen Einspruch erhoben und will das Rentenniveau durch die Hintertür senken. Dabei sind die ökonomischen Bedingungen zumindest in einer Hinsicht derzeit günstiger als früher: Sowohl die Einkommen von Beschäftigten als auch die Bezüge von alten Menschen können stabil bleiben oder steigen.

Der Gesetzentwurf des Sozialministeriums sieht vor, dass das Rentenniveau bis Mitte 2040 unverändert bei 48 Prozent bleibt. Ohne diese Reform würde das Niveau wie in den vergangenen Jahren weiter sinken. Dies sei wegen der demografischen Entwicklung nötig, hieß es bei der letzten großen Rentenreform 2001. Nun kommen bald die Babyboomer ins Rentenalter – und ausgerechnet jetzt plant der SPD-Politiker eine Abkehr von der alten Doktrin.

Genau das bemängeln viele Kritiker: Finanzminister Christian Lindner von der FDP war bei der Vorstellung des Rentenpakets II zwar dabei – doch nun hat er verhindert, dass die Reform diese Woche vom Kabinett beschlossen wird. Das Vorhaben sei nicht »generationengerecht«, behauptet seine Partei. Die »Kosten der Alterung« würden einseitig den Jungen aufgebürdet, befindet auch die »Süddeutsche Zeitung«. Er sei »fassungslos«, dass Heil »jetzt noch einmal massiv die Rentenausgaben erhöhen will, obwohl wir vor dem größten Alterungsschub stehen, den es jemals in Deutschland gegeben hat«, sagte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger der »Bild am Sonntag«. Das Vorhaben müsse daher »umgehend gestoppt werden«.

Wir wollten zunächst einmal wissen, wie groß dieser »Alterungsschub« eigentlich ist und haben das Statistische Bundesamt um Daten gebeten. Demnach ist die Zahl älterer Menschen (67 Jahre und älter) in den vergangenen zehn Jahren um 1,4 Millionen gestiegen. In den kommenden zehn Jahren dürfte sie deutlich stärker zunehmen, nämlich um gut drei Millionen. Zu diesem Ergebnis kommen die Statistiker in einer mittleren Variante ihrer Bevölkerungsvorausberechnung. Je nach Lebenserwartung können es etwas mehr oder weniger sein – der Unterschied zum vergangenen Jahrzehnt bleibt in allen Varianten beachtlich.

Nun lässt sich einwenden: Die eigentlich wichtige Frage ist, wie viele Beschäftigte in die Rentenversicherung einzahlen und wie viele Menschen daraus Altersbezüge erhalten. Doch das ist nicht so einfach vorherzusagen. Denn es hängt beispielsweise davon ab, wie hoch die Arbeitslosigkeit ist und welche Erwerbstätigen rentenversichert sind. Trotz aller Unwägbarkeiten könne man den »Alterungsschub« indes nicht wegdefinieren, sagt der Rentenexperte Johannes Geyer vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) dem »nd«: Die Zahl der Rentner*innen wird deutlich steigen. Und bleibt das Rentenniveau stabil, steigen auch die Ausgaben deutlich.

Woher kommt das Geld?

Konkret kalkuliert das Sozialministerium, dass der Rentenbeitrag von aktuell 18,6 Prozent des Bruttolohns nach und nach erhöht werden muss und im Jahr 2035 bei 22,3 Prozent liegt. Die Hälfte davon wird vom Bruttolohn abgezogen. Die andere Hälfte überweisen Unternehmen direkt an die Rentenkasse. Steigt der Beitrag, erhöht das die Arbeitskosten der Firmen. Das ist ein Grund für die Kritik von Arbeitgeberpräsident Dulger.

Nun ist der Anstieg nicht besonders groß: Die Unternehmen müssen damit rechnen, dass sie in elf Jahren bezogen auf die Bruttolöhne 1,85 Prozent höhere Beiträge abführen müssen. Deshalb dürfte es noch einen anderen Grund dafür geben, dass Unternehmensverbände sich seit Jahrzehnten besonders vehement höheren Sozialbeiträgen widersetzen. »Man schlägt damit zwei Fliegen mit einer Klappe«, sagt der Sozialforscher Gerhard Bäcker, Senior Professor an der Uni Duisburg-Essen, dem »nd«. Erstens gehe es um die Arbeitskosten, zweitens »will man den Sozialstaat begrenzen«. Konkret gesagt: Sind die Renten niedrig und die Abschläge bei Frührente hoch, sind viele Beschäftigte eher gezwungen, länger erwerbstätig zu bleiben. Für Unternehmen ist es einfacher, sie bei Bedarf als Arbeitskraft einzusetzen.

Für Beschäftigte bedeuten die Pläne, dass künftig ein höherer Prozentsatz ihres Bruttogehalts für die Rentenversicherung abgezogen wird. Daraus schlussfolgert das Magazin Spiegel-Online, dass die »Kosten der Alterung komplett nur einer Generation aufgebürdet« werden.

Ein höherer Rentenbeitrag in elf Jahren bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass Beschäftigte dann weniger Geld zur Verfügung haben als heute. Nach Heils Kalkulation werden dann 11,15 Prozent vom Bruttolohn abgezogen, das sind ebenfalls 1,85 Prozent mehr als heute. Wenn Gewerkschaften jedes Jahr etwas mehr als einen Inflationsausgleich durchsetzen, dann haben Beschäftigte 2035 netto einen höheren Reallohn als heute. Das ist auch dann möglich, wenn zusätzlich die Abgaben für die Kranken- und Pflegeversicherung etwas steigen. Bäcker hält dieses Szenario auch für wahrscheinlich: »In den letzten zehn Jahren sind die realen Nettolöhne deutlich gestiegen – trotz der zuletzt hohen Inflation. Das dürfte den Gewerkschaften auch künftig gelingen, nicht zuletzt wegen der hohen Beschäftigung.« Die durchschnittlichen Gehälter sind also langfristig gestiegen, wenn auch nicht für alle und in jedem Jahr.

Die Arbeitskräfteknappheit in einigen Bereichen kann ebenfalls dazu beitragen, dass Gewerkschaften mehr durchsetzen und so die Nettogehälter ebenso wie die Renten stabil bleiben oder steigen. Verstärkt wird der Personalmangel durch das Ausscheiden der Babyboomer aus dem Erwerbsleben.

Hinzu kommt: Wenn das Rentenniveau nicht sinkt, bekommen auch aktuell Beschäftigte im Alter mehr Geld.

Der viel kritisierte Anstieg der Sozialabgaben lässt sich durch mehr Beitragszahler*innen dämpfen. So wird denn auch häufig gefordert, dass mehr Frauen Vollzeit und alle Beschäftigten länger arbeiten sollen – wobei viele dies nicht können oder wollen. Es gibt jedoch noch weitere Möglichkeiten, die Einnahmebasis der Sozialkassen zu erweitern. Die Politik kann zum Beispiel die Rentenversicherung auf Selbstständige oder bestimmte Beamtenberufe ausweiten, sagt der Ökonom Geyer. Dies würde die Rentenversicherung über Jahrzehnte entlasten, weil sie zunächst zusätzliche Beiträge erhält und die Neu-Versicherten erst später nach und nach in Ruhestand gehen. »Hier hätte ich mehr erwartet, weil das Paket schon sehr ambitioniert ist«, sagt Geyer.

Einen bloß geringen Effekt hat hingegen das von der FDP durchgesetzte »Generationenkapital«: Geplant ist, dass der Bund jährlich Kredite aufnimmt, eine Stiftung legt das Geld am Kapitalmarkt an, in zwölf Jahren soll dann erstmals Geld aus dem Topf an die Rentenversicherung fließen. Die Ampel-Koalition kalkuliert, dass durch das »Generationenkapital« der Rentenbeitrag im Jahr 2040 um 0,3 Prozentpunkte niedriger ist als ohne diese Mittel.

Der »Taschenspielertrick«

Geplant ist auch, dass die Steuerzuschüsse zur Rentenkasse steigen, mit denen beispielsweise ein Teil der Mütterrente finanziert wird. 2035 sollen sie 7,2 Milliarden Euro höher sein als bisher veranschlagt. Woher diese Mittel kommen, ist eine politische Entscheidung. Der Ökonom Fritz Helmedag von der TU Chemnitz plädiert wie viele andere dafür, die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form abzuschaffen, damit Investitionen mit Krediten finanziert werden können. Dadurch wären mehr Steuermittel fürs Soziale frei. Möglich sind auch höhere Steuern auf extrem hohe Einkommen oder Vermögen, damit sich starke Schultern mehr an der Finanzierung des Sozialstaats beteiligen.

Doch beides lehnt die FDP ab. Damit schränkt sie den finanziellen Spielraum des Bundes ein und fordert stattdessen generell Einsparungen und speziell ein »Moratorium bei Sozialleistungen«. Durch den Stopp des Rentenpakets an diesem Dienstag wolle Lindner Druck auf die anderen Ministerien ausüben, von ihren Ausgabenwünschen abzurücken, schreibt das »Handelsblatt«.

Auch beim Rentenpaket selbst verlangt die FDP Änderungen. Andernfalls sei die Reform nicht zustimmungsfähig, droht der Koalitionspartner in einem Parteitagsbeschluss von Ende April. Darin bekräftigt die FDP alte Forderungen wie einen flexiblen Renteneintritt. Zudem solle das Rentenniveau anders berechnet und dabei berücksichtigt werden, dass das gesetzliche Rentenalter auf 67 Jahre angehoben wurde. Bäcker nennt dies einen Taschenspielertrick. Faktisch würde dies eine Senkung des Rentenniveaus bedeuten, erklären Bäcker und Geyer einhellig. »Am Ende steht 48 Prozent drauf, aber es ist etwas anderes drin als vorher, nämlich ein niedrigeres Niveau«, so Geyer. Auch der geforderte flexible Renteneintritt ist laut Bäcker ein verschleierter Kürzungsplan und bedeute konkret: »Wer früher in Ruhestand geht, soll weniger Rente bekommen.«

Weniger Rente, weniger Lohn

Die Rentenbeiträge für die »arbeitende Mitte« dürfen nicht »übermäßig« steigen, lautet ein zentraler Einwand von Kritikern wie der FDP. Diese Position ist sehr alt. Mit der gleichen Begründung hat die rot-grüne Regierungskoalition im Jahre 2001 beschlossen, das Rentenniveau zu senken. In der Folge schrumpften die preisbereinigten Altersrenten über Jahre hinweg. Die Beschäftigten profitierten davon allerdings nicht, im Gegenteil: Auch die durchschnittlichen Reallöhne sanken, brutto wie netto. Damals war die Arbeitslosigkeit hoch, die Gewerkschaftsbewegung schwach und der Neoliberalismus dominant. Politik und Unternehmen konnten sowohl Sozialkürzungen als auch Lohnsenkungen durchsetzen. In jüngster Zeit sind hingegen sowohl die realen Altersrenten als auch die Gehälter im Durchschnitt gestiegen. Insofern ist es erstaunlich, dass weiterhin der Eindruck erweckt wird, Junge hätten mehr, wenn Alte weniger bekommen.

Der Ökonom Geyer hält die geplante Absicherung des Rentenniveaus jedenfalls für sinnvoll. Denn die Einkommen der Rentner*innen seien vergleichsweise niedrig und die Untergrenze sorge immerhin dafür, dass die Altersbezüge im Wesentlichen an die Lohnentwicklung angepasst werden. »Das hat gerade für Ostdeutschland eine besondere Bedeutung, weil die Rente hier einen noch größeren Anteil des Einkommens ausmacht als im Westen.« Zudem seien die Rentenausgaben, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, derzeit in Deutschland niedriger als zum Beispiel in Österreich, Frankreich oder Italien. Wenn sich Heil durchsetzt, fließt auch hierzulande ein größerer Teil des Wohlstands an die größere Zahl älterer Menschen.

Das Rentenniveau

Das Sozialministerium will das Rentenniveau bei 48 Prozent stabilisieren. Was bedeutet dieses Niveau? Ein Beispiel:
Vor zwei Jahren lag das Rentenniveau bei 48,1 Prozent. Angenommen, eine Person hat 45 Jahre lang immer zum jeweiligen Durchschnittslohn gearbeitet und ist 2022 in Rente gegangen. Dann betrug ihre Rente 48,1 Prozent des Durchschnittslohns von 2022 und damit 1443 Euro im Monat.
Es handelt sich hierbei um einen Netto-Betrag. Die Sozialabgaben, die Rentner entrichten müssen, sind bereits abgezogen. Steuern müssen darauf noch entrichtet werden.
Die tatsächliche Altersrente ist jedoch niedriger. So erhielten 2022 Neurentner im Schnitt nur 1058 Euro im Monat. Ein wichtiger Grund: Die meisten Menschen sind nicht 45 Jahre lang ununterbrochen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Wobei viele länger als früher arbeiten, im Schnitt bis zum 64. Lebensjahr. rt

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