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Ernst Tollers Schlusswort vor dem Standgericht
Schriftsteller Ingo Schulze und andere lesen aus Werken von den Nazis verfemter Autoren
Der Schriftsteller Ernst Toller gehört zu den führenden Köpfen der Münchner Räterepublik und wird nach deren Niederschlagung im Juni 1919 gefasst und zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. In seinem »Schlusswort vor dem Standgericht« formuliert Toller, er würde sich nicht Revolutionär nennen, wenn er sich nicht das Recht nehmen würde, unerträgliche Zustände umzustürzen. Nicht religiös, aber jüdischer Herkunft, geht Toller 1933 ins Exil. Er hat früh vor den Faschisten gewarnt, die ihn jetzt ausbürgern. Desillusioniert und von Depressionen geplagt, nimmt sich Toller 1937 in New York das Leben.
Aus Tollers »Schlusswort vor dem Standgericht« liest der Schriftsteller Ingo Schulze am Freitag gegen 16.30 Uhr auf dem Berliner Bebelplatz vor. Bei der berüchtigten Bücherverbrennung exakt 91 Jahre zuvor haben die Nazis hier auch Tollers Werke in die Flammen geworfen. Aktionen wie diese gab es zu dieser Zeit an mehr als 100 Orten, beispielsweise auf dem Potsdamer Bassinplatz. Am bekanntesten jedoch ist die Bücherverbrennung auf dem Berliner Bebelplatz, der damals noch Opernplatz hieß. Es gibt Filmaufnahmen, die zeigen, wie rund 25 000 herbei gekarrte Bücher ins Feuer geworfen werden. Basierend auf einer schwarzen Liste des Bibliothekars Wolfgang Herrmann sind sie aus Büchereien ausgesondert worden. Propagandaminister Joseph Goebbels hetzt bei dieser Gelegenheit gegen ein angebliches Zeitalter des überspitzten jüdischen Intellektualismus, das nun zu Ende sei.
Zurückgehend auf eine Idee des Theologen und PDS-Bundestagsabgeordneten Heinrich Fink (1935–2020) gibt es schon seit Jahrzehnten zu den Jahrestagen der Bücherverbrennung das Lesen gegen das Vergessen, bei dem Prominente aus den Texten der einst verfemten Autoren vortragen. Für dieses Jahr organisierte das wieder die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch (Linke) in Zusammenarbeit mit ihrem Verein Gemeinsam in Lichtenberg und der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Mehrere hundert Zuhörer sitzen auf den extra aufgestellten Stühlen, als der Schriftsteller Ingo Schulze den Schriftsteller Ernst Toller als einen der mutigsten Antifaschisten bezeichnet und über dessen »Schlusswort vor dem Standgericht« sagt: »Das hat so viel utopische Kraft, dass es einem eigentlich schon weh tut.«
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Auch Nazijägerin Beate Klarsfeld, Sängerin Marianne Rosenberg und die Bundestagsabgeordneten Petra Pau und Gregor Gysi (beide Linke) tragen Texte vor. Links von der Bühne hat der Kleine Buchladen aus dem Karl-Liebknecht-Haus ein Regal mit antiquarischen Büchern bestückt und neue Bücher auf einem Tisch zum Verkauf ausgebreitet. Da liegen zum Beispiel direkt nebeneinander Petra Paus Anekdotensammlung »Gott hab sie selig« und Hans-Dieter Schütts »Auf eine Currywurst mit Gregor Gysi«. Da liegt ebenso eine Neuauflage von Lion Feuchtwangers Schlüsselroman »Erfolg«, der verfremdet den Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923 behandelt. Der 1930 erschienene Roman landete drei Jahre später natürlich auf der schwarzen Liste.
Verbrannt wurden 1933 auch die Werke des Philosophen Karl Marx. Dessen »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« entdeckt Rüdiger Deißler am Freitag auf dem Bebelplatz im Regal des Kleinen Buchladens. Der Bezirksverordnete der Linken in Charlottenburg-Wilmersdorf kennt sich mit antiquarischen sozialistischen Büchern aus und wundert sich nicht, den mit Bleistift eingetragen Preis von 150 Euro zu sehen. Es sei eine »sehr seltene« Ausgabe von 1941 aus dem Moskauer Verlag für fremdsprachige Literatur, bestätigt Göran Schöfer vom Kleinen Buchladen, der aber meint, er würde sich für diese Ausgabe auf 100 Euro runterhandeln lassen.
Das macht Deißler allerdings nicht, investiert stattdessen fünf Euro in »Geschichten aus Odessa«, eine Sammlung von Erzählungen des sowjetischen Autors Isaac Babel. Dieser war im Bürgerkrieg als Reporter Budjonnys roter Kavallerie zugeteilt und verarbeitete seine Erlebnisse in dem Erzählband »Die Reiterarmee«, der ihm bleibenden Ruhm verschaffte. Die Nazis verbannten Babels »Reiterarmee« aus den Büchereien. Der Autor fiel in seiner Heimat den stalinistischen Säuberungen zum Opfer, wurde 1940 in Moskau hingerichtet. Deißler interessiert sich sowohl für Isaac Babel als auch für den linken Malik-Verlag, der 1926 die deutschen Ausgaben der »Reiterarmee« und den »Geschichten aus Odessa« veröffentlichte. In eine Familie jüdischer Händler im Moldawanka-Quartier von Odessa war Babel 1894 hineingeboren worden. Sorgfältig reinigt Deißler seine Neuerwerbung mit einem Taschentuch von Staub und freut sich auf die Lektüre. Er diskutiert dabei noch lange über Literatur und Politik, während das Lesen gegen das Vergessen schon beendet ist und die Bühne abgebaut wird.
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