Wahlkreis Greiz: Linker Leon Walter im Haifischbecken

Leon Walter kandidiert zum ersten Mal für politische Ämter, in Greiz sogar für den Landtag. Sein Kontrahent ist niemand geringerer als Björn Höcke

  • Katja Spigiel, Weida
  • Lesedauer: 8 Min.
Leon Walter rechnet sich bei der Wahl durchaus Chancen aus. Vor allem mit sozialen Themen will er Punkten.
Leon Walter rechnet sich bei der Wahl durchaus Chancen aus. Vor allem mit sozialen Themen will er Punkten.

Unter dem Arm trägt Leon Walter einen Stapel Zeitungen und Handzettel, die rote Umhängetasche liegt auf seiner Schulter auf und baumelt bis unter die Hüfte herab. »Die sind jetzt schon völlig durchnässt«, sagt er, behält sein zügiges Schritttempo durch den Regen bei. Walter erzählt, dass das Wohngebiet durch den Bergbau der Wismut geprägt sei und stopft gleich mehrere Flyer in die Briefkästen eines Wohnhauses. Mit dem Ende der DDR endete auch dieser Industriezweig, die Wohnhäuser hier seien ein klassisches Arbeiterviertel. Gut in Schuss »und viel Leerstand«, quittiert der Politiker der Linken.

Am 26. Mai startet Thüringen mit den Kommunalwahlen ins Superwahljahr. Neben der Europawahl soll im September der Landtag neu gewählt werden. Walter kandidiert in seinem ersten Wahlkampf für kommunale Ämter in Schmölln und im Altenburger Land. Als Direktkandidat der Linksjugend Solid geht er in Greiz für den Landtag ins Rennen. Als der Wahlkreis zu vergeben war, willigte er ein, ihn zu übernehmen. Was er zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste: Auch Björn Höcke lässt sich hier aufstellen.

»Als ich davon erfahren habe, ist mir erstmal schlecht geworden.« Höcke hat im März seine Kandidatur für die Region bekannt gegeben. »Mein Telefon vibrierte, ich bekam eine Nachricht mit einem Bild von Höcke mit einem großen Blumenstrauß im Arm. Darunter die Frage: ›Hey Leon, ist das nicht dein Wahlkreis?‹«

Wahljahr Ost

Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.

Der AfD-Spitzenkandidat lebt eigentlich im Eichsfeld, am anderen Ende Thüringens, 250 Kilometer weiter. In der neuen Gegend rechne er sich aber bessere Chancen aus. Walter will das nicht so ganz verstehen, denn auch Greiz sei kein AfD-Hotspot. »Höcke kommt von der einen CDU-Hochburg in die nächste.«

Der 22-Jährige sei »enthusiastisch« in die Wahl gestartet. Jetzt fühle er sich »mit einem Haifisch ins Becken geworfen«. Das steigere nicht nur das Stresslevel, sondern auch die Erwartungshaltung an sich selbst. Beim Flyern im zu Greiz gehörenden Berga erzählt er, dass er sich für den Wahlkampf Urlaub genommen habe. Der Verwaltungsfachangestellte arbeitet als Sachbearbeiter in einem Jugendamt, gedanklich sei er schon seit Anfang des Jahres mit der Wahlkampagne beschäftigt. In einer Excel-Tabelle habe er monatelang relevante Infos über Kommunen, Kontakte sowie konkrete Pläne und Ideen gesammelt. »Ich bin halt ein Nerd«, sagt er und schmunzelt etwas. Trotzdem: Es läuft nicht alles glatt. Wegen Lieferproblemen sind Wahlkampfmaterialien knapp. Der Fokus müsse erst mal auf den kleineren Orten liegen. Auch die Koordinierung von Terminen und helfenden Händen sei kompliziert und zu allem Übel kommt für Walter ein Wasserschaden wegen eines Rohrbruchs in der Wohnung über seiner hinzu. Er sagt, dass seine Tage zurzeit gefühlt 40 Stunden hätten.

An einem Park hält Walter Ausschau nach Holger Steiniger, dem Landratskandidaten der Linken in Greiz bei der Kommunalwahl. Für das Flyern haben sie sich zuvor im Ort aufgeteilt. Als sie aufeinandertreffen, schlägt Steiniger vor, sich in sein Auto zu setzen. Mit Nachdruck sagt der dann, dass Höcke »doch überhaupt gar nichts mit der Gegend zu tun« habe. »Er erhofft sich hier ein wirklich leichtes Spiel.« Nach kurzer Absprache mit Walter, in der einige Ortsnamen fallen, startet der Kommunalpolitiker den Motor und fährt aus dem Ort heraus. In der Gemeinde Weida ist für den Abend ein Bürgerdialog mit Höcke und eine Gegendemonstration angekündigt. Es mache also Sinn, schon in die Richtung zu fahren und auf dem Weg ein paar Handzettel zu verteilen. Die Mitfahrgelegenheit trifft sich gut: Für die zehn Kilometer bräuchte man fast 50 Minuten mit dem Zug, und ein Bus fährt nicht.

Über geschlängelte Straßen und einen Wald geht es in den Nachbarort. Über seine Chancen bei den Wahlen sagt Walter: »Sicher wird es schwierig, doch ich setze darauf, der lachende Dritte zu werden, wenn zwei andere sich streiten.« Steiniger parkt in einer Siedlung mit Wohnblöcken. Bevor er hinter dem Sitz nach der Tasche mit dem Logo der Linken und dem Wahlkampfmaterial greift, erzählt er vom Landtagskandidaten der CDU für Greiz. Christian Tischner wurde schon in den vergangenen beiden Legislaturperioden in den Landtag gewählt. Seinen rechtsextremen Gegner soll er einen »westdeutschen Zugereisten« genannt haben. Trotzdem würde er versuchen, sich mit Höcke mit Themen zu überbieten. Tischner werde, da sind sich die beiden Linke-Politiker sicher, »am rechten Rand fischen«. Steiniger meint: Wer die AfD ablehne, müsse konsequenterweise auch Tischner ablehnen. »Das ist auch mein Kalkül«, ruft Walter aus. »Wenn die beiden in der heißen Wahlkampfphase ums Gendern und die Bezahlkarte diskutieren, dann will ich menschennahes thematisieren. Wieso kommt man beispielsweise nicht mit dem ÖPNV gescheit von Berga nach Weida?«

Wahljahr Ost

Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.

Ausgerechnet der Chef des als rechtsextrem geltenden Thüringer AfD-Landesverbandes müsste im Eichsfeld um ein Mandat bangen. In seiner Heimat musste er schon bei der Landtagswahl 2019 eine Niederlage gegen seinen CDU-Gegner verkraften. Wenn es mit dem Direktmandat wieder nicht klappen würde, müsste Höcke also auf die Landesliste hoffen. Doch gerade, weil die AfD laut Prognosen viel Zuspruch in dem Bundesland bekommt, könnte es sein, dass die Liste gar nicht zum Einsatz kommt. Höcke wäre dann darauf angewiesen, dass ein anderer Abgeordneter zu seinen Gunsten zurückzieht – das könnte peinlich sein.

Was aber, wenn Höcke in Greiz sein Mandat bekommt und sich anschließend für das Amt des Ministerpräsidenten durchsetzt? Greiz hat schließlich mehr Potenzial für die AfD, bei der letzten Wahl war ihr Ergebnis nicht weit von dem der CDU entfernt. Der 22-jährige Linke muss schlucken. Er fängt verschiedene Satzanfänge an, kommt dann ins Stocken und überlegt wieder neu. »Das ist eine frustrierende Frage«, meint er. Das dürfe nicht passieren, »deswegen muss man kämpfen«.

Als Steiniger aus dem Auto steigt, spricht Walter über die jungen Menschen, die die Region verlassen. Trotz des Fach- und Arbeitskräftemangels fänden viele keine passende Ausbildung, denn »die Rahmenbedingungen drumherum passen nicht«. Geschäfte stünden leer, es gebe weder eine Jugendvertretung noch Mobilität, und die Bordsteine werden schon mittags hochgeklappt. Politisch interessierte Menschen würden lieber in Städte wie Leipzig ziehen und in der Szene und auf Soli-Partys abhängen. »Linke Kräfte werden im ländlichen Raum allein gelassen.« Walter spricht schneller. »Und zu Recht macht mich das wütend.« Wenn niemand da sei, dann fehle es an Bezugspunkten, frustrierende Politik hingegen bereite der AfD den Boden. »Ich habe auch richtig Bock, in der Kommunalpolitik aktiv zu werden. Wenn es aber nichts wird, dann hätte ich um so mehr Zeit für den Wahlkampf hier gegen Höcke. Ich nehme, was kommt.«

In Weida herrscht Ratlosigkeit darüber, wo man einen Kaffee trinken kann. Nach einigen Wendemanövern in engen Straßen ruft Steiniger über die Freisprechanlage einen Bekannten an und bittet um einen Tipp. Die einzige Möglichkeit sei der Bäcker in der Eingangshalle des Edeka. Laut den beiden Thüringern ist das nicht weiter verwunderlich und nur noch ein Beispiel für unattraktive Infrastruktur. Steiniger muss weiter und setzt Walter auf dem Parkplatz des Supermarkts ab. Bei einem Stück Mandarinen-Kuchen und schwarzem Kaffee erzählt er, warum er an der Region hängt. Nach der Schulzeit sei kaum jemand geblieben, aber »irgendjemand muss ja«. Am einzigen Stehtisch der Bäckerei gestützt erklärt er, dass die Wende die Gegend zur »Verliererregion« gemacht habe. Sowohl mit dem Bergbau als auch mit der Textilindustrie war auf einmal Schluss. Auch seine Eltern habe das getroffen, er nutzt den Begriff der »Wendeverlierer«. Irgendwann habe man dann hinterfragt, wieso Klassenkamerad*innen so oft mit ihren Eltern in den Urlaub fliegen könnten, wenn es bei einem selbst gerade mal für den Thüringer Wald gereicht hätte. »Ohne Frage – das hat mich politisiert.«

Vor dem Bürgerhaus in Weida stehen einige Dutzend Menschen, sie halten Pappschilder mit Anti-AfD-Sprüchen in die Höhe, einige blasen in Trillerpfeifen. Immer mehr kommen hinzu und drücken gegenseitig ihre Freude darüber aus, dass sie so viele seien. Schräg gegenüber, vor dem Veranstaltungsort des Bürgerdialogs mit Höcke, sammeln sich Menschen und scheinen sich über die Demonstrierenden zu amüsieren. »Die hängen da mit der Hoffnung auf ein Autogramm vom Fascho«, kommentiert Walter. Aus den Musikboxen läuft »Für immer Frühling« von Sängerin Soffie. Der Song wurde zu Beginn des Jahres als Tik-Tok-Hype zu einer Hymne der Demos gegen Rechtsextremismus.

Alexandra tanzt zur Musik und hält ihr Schild, auf dem »Rassisten sind keine Alternative« steht, weit in die Höhe. »Ich finde abartig, was heute so als normal gilt«, sagt die 36-Jährige. Menschenverachtende Positionen seien schon gang und gäbe. Dagegen will sie, gemeinsam mit Lars, mit dem sie aus dem etwa 30 Kilometer entfernten Zeulenroda angereist ist, Position beziehen. »Du hast sogar freigenommen, damit wir hier sein können«, sagt Lars und Alex bestätigt: »Extra hierfür – denn ich möchte nicht, dass Nazis Politik machen.« Während sie spricht, parken drei Traktoren auf der gegenüberliegenden Straßenseite, direkt neben der Versammlung. »Das wär dann wohl die Gegendemo zur Gegendemo«, sagt Leon Walter spöttisch. Eines der Fahrzeuge ist mit kleinen Deutschlandflaggen beklebt. Personen aus ihren Fahrzeugen, auf dem Rückenteil eines T-Shirts ist die Reichskriegsflagge zu erkennen.

Ilse hat sich etwas weiter weg gestellt vom Getümmel, denn es sei ihr zu laut. Die 74-Jährige hat kein Verständnis dafür, dass überhaupt ein Bürgerdialog mit jemandem wie Höcke stattfinden kann, deswegen demonstriere sie dagegen. »Ich möchte einfach nur Frieden für meine Kinder und meine Enkelkinder haben«, sagt sie. Der Gedanke an die Landtagswahlen mache ihr Bauchschmerzen, »aber ich hoffe, dass die Menschen vernünftig sind und wählen, was ihnen wichtig sein sollte: das Recht auf Freiheit und Demokratie. Wenn es schlecht ausgeht, befürchte ich, dass uns das genommen werden könnte.«

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