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75 Jahre Grundgesetz: Dehnbar wie ein Gummiband
Bei aller Kritik: Linke konnten mit Berufung auf das Grundgesetz wichtige Entscheidungen erkämpfen
Viele Linke erhoffen sich wenig von Recht und Gesetz. Artikel und Paragrafen, geschaffen von einer bürgerlichen Klasse, sichern seit jeher deren Herrschaft ab. Diese feiert dieser Tage bei Sekt und Häppchen das 75-jährige Jubiläum der deutschen Verfassung, des Grundgesetzes. Es ist am 24. Mai 1949 in Kraft getreten. Zugleich verstößt die Exekutive immer wieder dagegen, sei es beim Haushalt, sei es durch Polizeigewalt. Wenn Parteien wie SPD oder CDU von »Rechtsstaat« reden, meinen sie damit oft staatliche Gewalt und Strafe statt eines Staates, der sich an Gesetze halten muss.
Dass der linke Rechts-Pessimismus begründet ist, lehren zahlreiche juristische Niederlagen in der Geschichte ebenso wie Krieg, Kapitalismus und Klimakrise der Gegenwart, die bisher kein Gesetz und kein Urteil stoppen konnten. Ein Beispiel aus Berlin: Dort müssten Wohnungen von großen gewinnorientierten Unternehmen in Gemeineigentum überführt werden, wie es Artikel 15 GG ermöglicht, damit Menschen sie sich wieder leisten können. Die Vergesellschaftung verlangt ein erfolgreicher Volksentscheid von 2021. Doch die verantwortlichen Parteien verweigern den Respekt für den in der Verfassung verankerten Volkswillen, sie haben ihn bis heute nicht umgesetzt.
Allerdings – da sind sich bis auf ein paar weltfremde Autonome oder autoritäre Kommunisten die meisten Linken einig – sähe ohne Normen wie die Grundrechte alles noch schlimmer aus. Und es gab in den vergangenen 75 Jahren auch aus linker Sicht Erfolge zu feiern. Grundrechtskämpfe, Grundsatzurteile und Gesetzesänderungen, wie Pflöcke in die bürgerliche Normalität gerammt, erzeugen Aufmerksamkeit, verschaffen Luft zum Atmen und können durchaus über das Bestehende hinausweisen.
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Der Geburtstag des Grundgesetzes ist ein guter Moment, sich an einige wichtige Entscheidungen zu erinnern. Gratuliert werden sollte allerdings weniger der Verfassung oder ihren Eltern als vielmehr denjenigen, die ihr durch emanzipatorische Kämpfe Leben einhauchen.
Mit der Verfassung gegen den Staat
Heutzutage sind das oft Menschenrechtsorganisationen wie zum Beispiel FragDenStaat oder die Gesellschaft für Freiheitsrechte. Sie versuchen, durch strategische Klagen die Spielräume, die das Grundgesetz bietet, zu verteidigen oder auszuweiten. Einer ihrer größten Erfolge ist die gewonnene Klage gegen das BND-Gesetz. Das Bundesverfassungsgericht stellte 2020 klar, dass deutsche Behörden sich auch im Ausland an das Grundgesetz halten müssen, und forderte die Regierung auf, neue digitale Formen der Überwachung einzuhegen. Dahinter steht eine weltweite Bewegung für den Schutz von Hinweisgeber*innen, für Pressefreiheit und gegen staatliche Überwachung.
Dagegen kämpfte schon in den 1980er Jahren die linke Bürgerrechtsbewegung. Sie errang mit dem Volkszählungsurteil von 1983 (BVerfGE 65,1) einen grandiosen Sieg. Das Grundsatzurteil etablierte, basierend auf dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Menschenwürde, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und war eine bahnbrechende Entscheidung für den Datenschutz.
Das Grundgesetz erlaubt Solidarität
Ein anderes Recht, das stärker ins linke Bewusstsein gerückt werden sollte, ist das auf Solidaritätsstreiks, auch Unterstützungsstreiks genannt. Grundlage dafür bietet Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz, der die gewerkschaftliche Betätigungsfreiheit garantiert. Dass auch die Rechtsprechung das inzwischen einsieht, ist organisierten Arbeiter*innen, Gewerkschaften und linken Anwält*innen zu verdanken. Im Laufe der Geschichte hatte das Bundesarbeitsgericht hin und her geschwankt, wie Urteile von 1984, 1985 und 1988 zeigen. Doch seit dem Jahr 2007 werden Unterstützungsstreiks als eine spezifisch koalitionsgemäße Betätigung aufgefasst und damit grundsätzlich als zulässig erachtet (BAG, 2007, 136 f.). Die praktische Anwendung ist zwar schwierig, aber sie lohnt sich.
Zum Thema: Wie sozial ist das Grundgesetz? – Solange die Klassengesellschaft für ungleiche Voraussetzungen sorgt, gibt es keine Gleichheit in der Demokratie
Ein aktuelles Beispiel aus Schweden zeigt, wie wirkungsvoll Soli-Streiks nicht nur für bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch im Kampf gegen umweltzerstörerische Großkonzerne sein können: Um die Beschäftigten von Tesla zu unterstützen, hatten die Angestellten der Firma Postnord im letzten Herbst die Zustellung der Post an Tesla verweigert. Auch in Deutschland wären mehr Solidaritätsstreiks sinnvoll, etwa in Branchen wie dem Einzelhandel. So könnten Beschäftigte in der Produktion die Arbeit niederlegen, um Erzwingungsstreiks von Beschäftigten im Verkauf zu verstärken.
Kunstfreiheit für den Kommunismus
Aus ostdeutscher Sicht kurios erscheinen dürfte ein Erfolg im Bereich der Kunstfreiheit aus dem Jahr 1987: Dabei ging es um das Emblem der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Der 1938 in Paris und Prag von Geflüchteten wie Willy Brandt gegründete kommunistische Jugendverband wurde in der DDR zur Massenorganisation. In Westdeutschland setzte die FDJ sich etwa gegen die Wiederbewaffnung ein. Dort war sie seit 1951 verboten, da ihre Ziele der freiheitlich-demokratischen Grundordnung widersprächen. Somit durfte auch das Emblem als »Zeichen einer verfassungswidrigen Organisation« nicht getragen werden. Eigentlich.
Bis zur westdeutschen Erstaufführung von Bertolt Brechts »Herrnburger Bericht«, in dessen Rahmen die gelbe Sonne etwa auf Werbeplakaten für das Theaterstück auftauchte. Die Verantwortlichen wurden verurteilt. Dem widersprach das Bundesverfassungsgericht: »Eine Einschränkung der vorbehaltlos gewährleisteten Kunstfreiheit lässt sich nicht formelhaft mit dem ›Schutz der Verfassung‹ … rechtfertigen.« (BVerfGE 77, 240)
Wer gerne Bayern beleidigt oder Musik von Danger Dan hört, dürfte sich auch für den Anachronistischen Zug interessieren. Das war ein politisches Straßentheater, das basierend auf dem gleichnamigen Gedicht von Bertolt Brecht aus dem Jahr 1947 die Kandidatur von Franz Josef Strauß zum Bundeskanzler kritisierte. Der Protestzug, eine Idee des Arbeiterbundes für den Wiederaufbau der KPD und organisiert von einem großen Bündnis »Brecht statt Strauß«, rollte 1980 drei Wochen lang durch die Republik. Auf einem Wagen befand sich eine Strauß-Puppe, zusammen mit dessen »Parteigenossen« Hitler, Göring, Himmler und so weiter.
Strauß stellte Strafantrag und bayerische Gerichte verurteilten die Künstler. Die legten Rechtsmittel ein und erreichten so eine Grundsatzentscheidung (BVerfGE 67, 213), die festlegt: Die Kunstfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Sie kann nicht unmittelbar durch allgemeine Gesetze eingeschränkt werden, dazu gehören Strafgesetze und der Tatbestand der Beleidigung. Dabei unterliegt die Kunstfreiheit verfassungsimmanenten Schranken. Kollidiert sie mit einem anderen Grundrecht, muss abgewogen werden. Zum Beispiel dürfen Schauspieler*innen auf der Bühne nicht wirklich sterben, nur weil dadurch die Aufführung dramatischer würde, das verbietet ihr Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) in Verbindung mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG).
Gegen rassistische Polizeigewalt
Menschen, die tatsächlich sterben, kann kein Artikel oder Urteil der Welt zurückholen. Und doch bedeutet, etwa im Kampf gegen rassistische Polizeigewalt, Hinterbliebenen und Aktivist*innen ein Sieg vor Gericht oft viel. So wurde nach dem Tod von Oury Jalloh am 7. Januar 2005 in einer Zelle des Polizeireviers in Dessau nach einem jahrelangen Kampf um Gerechtigkeit geklärt: Sämtliche Maßnahmen der Polizisten waren rechtswidrig. Dies stellte das Landgericht Magdeburg 2021 fest und verurteilte den Dienstgruppenleiter Andreas Schubert – immerhin – wegen fahrlässiger Tötung.
Juristische Erfolge wie dieser ermutigen auch andere, sich zu wehren. So zum Beispiel nach dem Tod von Ante P., der 2020 in Mannheim bei einem Polizeieinsatz starb. Selbst wenn Urteile enttäuschend ausfallen, so vergrößert die mühsame Organisierung von Gerichtsprozessen das öffentliche Bewusstsein für das Problem: Rassismus bei der deutschen Polizei, in deren Händen, trotz Grundgesetz, immer wieder Menschen sterben.
Auch bei Demonstrationen gehen Beamte oft brachial vor. Ein Meilenstein für die Versammlungsfreiheit und einer der größten Erfolge aus linker Sicht bleibt der Brokdorf-Beschluss von 1985. Darin hob das Bundesverfassungsgericht das Demo-Verbot gegen den Bau eines Atomkraftwerks in Schleswig-Holstein auf, gegen den sich 50 000 Menschen gestellt hatten.
Allerdings wurde das Grundgesetz nicht nur verteidigt, sondern auch ausgeweitet. So wurde 1994 in Artikel 3, Abs. 2 GG, ein Satz eingefügt, der mehr Beachtung verdient: »Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« Damit bietet das Grundgesetz das Potenzial, nicht nur die Gleichberechtigung, sondern auch eine materielle Gleichstellung von Frauen zu schaffen.
Der kleine Ausschnitt linker Erfolge zeigt: Unser Recht ist wie ein altes Gummiband – zäh, aber dehnbar. Normen und Rechtsprechung sind stets das Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Sie verändern sich, je nachdem, welche Seite gerade fester zieht. Wer die Rechtslage also zu repressiv findet, kann in juristischen Kämpfen – mit ausreichend Hartnäckigkeit – durchaus mehr Freiheit und Gleichheit erreichen.
Lotte Laloire war Politikredakteurin beim »nd«. Heute arbeitet sie als freie Journalistin sowie als Referentin für den Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV).
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