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Neues Grundrecht: Freiwillig gegen Digitalzwang
Bürgerrechtsverein will Recht auf Leben ohne Digitalisierung im Grundgesetz verankern
Die inzwischen weit verbreitete Digitalisierung von Dienstleistungen spart Zeit und bietet Vorteile: Termine bei Behörden und Ärzten können online gebucht, die Bahn-Card kann auf dem Mobiltelefon vorgezeigt, per Sendungsverfolgung ein erwartetes Paket lokalisiert werden. Aber was, wenn die digitale Freiheit zur Pflicht wird, es also ohne Online-Account keinen Arzttermin gibt, ohne App keine Bahn-Card und ohne Mailadresse kein Sparpreisticket?
Auf diesen »Digitalzwang«, der vor allem ältere und kranke Menschen sowie Menschen mit geringem Einkommen benachteiligt, macht derzeit der in Bielefeld ansässige Verein Digitalcourage in einer Kampagne aufmerksam. Mit hohem Tempo würden bestehende, ohne digitales Gerät zugängliche Dienste abgebaut und durch Leistungen ersetzt, die an ein Smartphone, eine bestimmte App oder ein Online-Kundenkonto gebunden sind, so die Kritik. Dies gehe auf Kosten von Teilhabe und Wahlfreiheit. Deshalb sei es wichtig, dass immer ein »nicht-digitaler Weg« zur Verfügung stehe. So hatte es bereits Heribert Prantl vor einem Jahr in der »Süddeutschen Zeitung« in einer Kolumne als »Recht auf ein analoges Leben« gefordert. Dieser Text sei der Anstoß für die Kampagne gewesen, sagte Digialcourage in einer Pressekonferenz am Dienstag.
Als schlechtes Beispiel für digitale Dienstleistungen ohne Wahlfreiheit nannte Digitalcourage bei der Pressekonferenz den Paketdienstleister Deutsche Post DHL Group, der von dem Verein vor einem Jahr bereits den Negativpreis »Big Brother Award« erhalten hatte. Durch die Umstellung der Funktionsweise ihrer Packstationen zwinge die Firma ihre Kunden, ein Smartphone und eine DHL-App zu nutzen.
Anlässlich des 75. Jahrestags des Grundgesetzes am Donnerstag will Digitalcourage eine Unterschriftensammlung starten, um die Wahlfreiheit für die digitale oder analoge Beantragung von Dienstleistungen als Grundrecht zu verankern. Damit sollen Abgeordnete im Bundestag dazu bewegt werden, einer solchen Änderung des Grundgesetzes zuzustimmen. Denkbar sei dies etwa in Artikel 3 Absatz 3, der regelt, dass niemand wegen gewählter oder nicht gewählter Eigenschaften bevorzugt oder beachteiligt werden darf.
Dass vom Digitalzwang beträchtlich viele Bürger in Deutschland betroffen sind, belegen die Bürgerrechtler mit Zahlen des Statistischen Bundesamtes vom April diesen Jahres, wonach fünf Prozent aller Einwohner zwischen 16 und 74 Jahre noch nie online waren – das sind laut der Statistik rund drei Millionen Menschen.
Kritisiert wird auch, dass die Apps für Arzttermine, Bahn-Cards oder DHL-Pakete ungefragt Daten an Tracking-Firmen senden und diese die Nutzer anschließend mit zielgerichteter Werbung behelligen. Wenn dieser »Datenabgabezwang« von ehemaligen Staatsunternehmen ausgehe, gehöre dies »besonders gerügt«, sagt Digitalcourage.
Die beschriebenen Dienste gehörten zur wichtigen Grundversorgung, mit der zwingenden Digitalisierung werden Bürger davon ausgeschlossen, kritisiert der Verein, der sich seit 1987 für Grundrechte, Datenschutz und »eine lebenswerte Welt im digitalen Zeitalter« einsetzt. Explizit bezeichnet sich Digitalcourage als »technikaffin«, es geht den Mitgliedern also nicht darum, auf Vorteile der Digitalisierung zu verzichten.
Bürger müssten aber selbst entscheiden dürfen, ob und wann ein Smartphone genutzt oder überhaupt angeschafft werden muss, fordern die Bielefelder Bürgerrechtler. Das Gleiche gelte für Betriebssysteme, auf denen die benötigten Apps installiert werden müssen, die aber oft kostenpflichtig sind. Die gesellschaftliche Abhängigkeit von digitalen Lösungen sei ein Risiko, sagt Digitalcourage, die Wahlfreiheit fördere hingegen die »gesellschaftliche Resilienz«.
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