Europäischer Syllogismus

Denzel Washington kämpft gegen die Camorra, aber wer nimmt es mit der FDP auf – fragt sich Alex Demirovic

FDP-Spitzenkandidatin Strack-Zimmermann im Kampf für die röhrende Freiheit der Wenigen
FDP-Spitzenkandidatin Strack-Zimmermann im Kampf für die röhrende Freiheit der Wenigen

In »Equalizer 3« kämpft Denzel Washington erneut gegen das Böse. Es kommt in Gestalt der Camorra in schnellen Autos und auf Motorrädern. Sie versucht, die wunderschönen Dörfer an einer malerischen Küste Süditaliens unter ihre Kontrolle zu bringen: Die Einwohner alter Häuser werden mit Gewalt hinausgedrängt, Menschen zu Abgaben gepresst, Polizisten und ihre Angehörigen mit Gewalt bedroht und korrumpiert. Das alles, um den Drogenhandel auszudehnen und die Küste gewinnbringend für den Tourismus zu erschließen. Der Camorra-Chef, der die Einwohner des Städtchens terrorisieren lässt, weil er schneller ans große Geld heranwill, steht auf dem Marktplatz und bedroht alle mit seinem Freiheitsanspruch: »Ich nehme mir, was ich will.«

Wenn ich eine der Straßen in Berlin-Wilmersdorf entlang laufe, die verkehrslaut und voller getunter SUV ist, die aggressiv röhrend beschleunigen, dann bin ich aktuell mit Wahlplakaten der Parteien für die Wahlen des Europa-Parlaments konfrontiert. An nahezu jeder Straßenlaterne hängen welche der FDP. »Wirtschaft liebt Freiheit so wie Du.« Darunter das Konterfei der, wie es heißt, streitbaren Frau Agnes Strack-Zimmermann, die sich gern auch mal als coole Oma auf dem Motorrad präsentiert. Die persönliche Ansprache mit dem »Du« irritiert und ärgert mich. Bin ich mit der FDP oder gar Agnes per Du? Könnte ich in gleicher Weise Christian oder Agnes ansprechen: Hallo Christian, setz Dich doch mal für arme Kinder ein? Da nimmt sich jemand viel Freiheit heraus.

Alex Demirović

Alex Demirović stammt aus einer jugoslawisch-deutschen Familie; der Vater wurde von den Nazis als Zwangsarbeiter verschleppt. Wegen eines politisch motivierten Vetos des hessischen Wissenschaftsministeriums durfte Demirović in Frankfurt nicht Professor werden. Seitdem bewegt er sich an der Schnittstelle von Theorie und Politik. Jeden vierten Montag im Monat streitet er im »nd« um die Wirklichkeit.

Es stimmt: Ich liebe die Freiheit. Die freie Entfaltung einer jeden Person als Bedingung der Freiheit aller anderen. Das ist nicht die »Freiheit der Wirtschaft«? Ist denn die Wirtschaft eine Person, die Freiheit genießt? Wohl nicht. Ist Freiheit mit Wirtschaft verbunden? Wieder eine negative Antwort. Wirtschaft muss wachsen, es müssen Gewinne gemacht werden. Freiheit der Wirtschaft bedeutet Flucht aus der Tarifbindung, niedrige Löhnung, schlechte Arbeitsverhältnisse, Ausbeutung, irrationale Vernutzung von Natur und Rohstoffen. Sind nicht die Freien Demokrat*innen die ersten, die uns über den Sachzwang der kapitalistischen Ökonomie zu belehren versuchen: Man kann Geld nicht ausgeben, was man nicht erwirtschaftet hat. Zu den Chancen der Freiheit gehört der Betrug, die Insolvenz, die Unterproduktion lebenswichtiger Güter wie Wohnraum oder Arzneimittel.

Die Wirtschaft ist nicht frei. Die Freiheit der Wirtschaft meint die Freiheit weniger, sie nehmen sich, was sie wollen: die Arbeit der Vielen, die natürlichen Ressourcen, den Staatshaushalt, und verwandeln das in Gewinn für sich. Für die Vielen bleiben die täglichen Anstrengungen, einigermaßen zu überleben, bleiben die Verspätungen der Züge und Wartezeiten auf den Bahnhöfen, die Staus auf den Straßen, die schlechte und überteuerte Gesundheitsversorgung, die krankheitserregenden Lebensmittel, die Suche nach einer bezahlbaren Wohnung oder einem Termin beim Arzt. Die Wirtschaft bietet die Freiheit der Chance.

Doch darin ist das ganze Elend dieses gewalttätigen Freiheitsbegriffs enthalten. Es ist statistische Freiheit. Dort wo Chancen sind, warten für viele die Risiken. Sie müssen versuchen, das kleine, zufällige Glück zu ergattern. Die Freiheit der Wirtschaft wandelt die Freiheit in einen Lottogewinn um: Viele legen ihr Geld in den Topf, und ein Gewinner holt es für sich raus. Warum glauben die Leute an ein solches kleines Glück?

Das alles stört die FDP nicht. »Europa lebt von Freiheit. Nicht von Richtlinien.« Dass die FDP sich nicht an Regeln halten will, auch solche, die sie mit verabschiedet, hat sie in den vergangenen Jahren vielfach bewiesen. Die Rechte und Freiheiten der Einzelnen zu sichern, gehörte historisch zum Selbstverständnis des Bürgertums. Dafür hat es Regeln, Gesetze, Richtlinien geschaffen. Diese sollen die Verfügungsmacht der Mächtigen, des Staates begrenzen, Gleichgewichte ermöglichen. Wenn heute im Namen der Freiheit angeblich die Bürokratie bekämpft wird, kommt es zu Desorganisation, zu mehr Bürokratie. Was öffentlich und aus einer Hand angeboten werden könnte, wird von vielen Firmen privat, teuer und verbunden mit Betrug angeboten. Die Macht setzt sich durch, geschützt wird sie von einem gangsterhaften Freiheitsbegriff.

Im Namen der Freiheit stellt sich die FDP der Geschwindigkeitsbegrenzung entgegen, lenkt die öffentlichen Gelder in den Individualverkehr, hält an der Subvention von Dienstwagen fest, sodass es lohnend erscheint, übergroße, schwere Autos mit hunderten Pferdestärken zu bauen, verhindert die Umsetzung eines Lieferkettengesetzes, widersetzt sich einer Kindergrundsicherung, blockiert die Energiewende, schränkt die politische Bildung im Namen der Kriegsführungsfähigkeit ein: »Bildung ist die erste Verteidigungslinie der Demokratie«. Zu wenig Bildung, zu wenig Freiheit, zu wenig Demokratie, zu wenig Sicherheit sind die Folgen. Anstatt gut geregelte Verhältnisse herzustellen und Freiheit für alle zu ermöglichen, wird den vielen mit der röhrenden Freiheit der Wenigen gedroht.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -