Fahrrad: Der neue Goldstandard für die Alltagsmobilität

Der ADFC möchte die Bundesrepublik zu einem »Fahrradland plus« machen. Das Potenzial wäre vorhanden

  • Jörg Staude
  • Lesedauer: 4 Min.

Schon vor sieben Jahren hatte nahezu jeder Bewohner Deutschlands ein Fahrrad, statistisch gesehen jedenfalls. Unter den 77 Millionen Rädern befanden sich auch vier Millionen Pedelecs, also E-Bikes. 2023 waren hierzulande bereits 84 Millionen Fahrräder vorhanden, etwa jedes achte Gefährt mit einer Antriebsbatterie. Mehr Fahrräder bedeuten aber nicht automatisch, dass ihr Mobilitätsanteil wächst. Das gilt auch für die Corona-Jahre, in denen Radfahren oft eine sichere Alternative war. Als klaren Gewinner der Pandemiezeit von 2020 bis 2023 kürt die neueste Mobicor-Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung – die Füße.

Mobicor steht für »Mobilität in der Corona-Pandemie«. Laut der aktuellen Studie hat sich der Anteil des Fußverkehrs in Deutschland inzwischen bei mehr als 25 Prozent eingependelt – Platz zwei nach dem Auto. Beim Fahrrad gibt es dagegen keine eindeutige Tendenz. Bei passender Infrastruktur steige der Radverkehrsanteil zwar leicht, zuletzt stagnierte aber die Nutzung, heißt es in der Studie.

Mit der Stagnation soll es aber nach dem Willen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) möglichst bald vorbei sein. Deutschland könne bis 2035 ein weltweit führendes »Fahrradland plus« werden, erklärte Verbandschef Frank Masurat am Dienstag in Berlin. Um das zu untermauern, präsentierte der ADFC eine Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe. Dieses habe gefragt, wie sich der Radverkehr entwickeln würde, wenn alle Randbedingungen optimal wären, beschreibt Projektleiter Claus Doll das Herangehen.

Bei ihren Prognosen mussten sich die Fraunhofer-Experten noch vor allem auf Daten der regierungsoffiziellen Studie »Mobilität in Deutschland 2017« stützen. Seitdem ist indes nicht nur die Zahl der Fahrräder gestiegen, es gibt auch ein Deutschlandticket und anderes mehr. Deswegen habe man die Daten von 2017 mit Angaben aus Verkehrsverbünden und anderen Quellen aktualisiert und sich eine eigene Datenbasis für 2023 geschaffen, erläutert Doll.

Das so ermittelte Potenzial für das Fahrrad ist jedenfalls enorm: Unter optimalen Umständen könnte sich der Anteil am Personenverkehr bis 30 Kilometer von derzeit 13 auf 45 Prozent erhöhen, also so gut wie verdreifachen. Bleibe es aber bei der bisherigen Verkehrspolitik, werde der Anteil des Fahrrads an den täglichen Wegen nur von 13 auf 15 Prozent steigen, betont Doll.

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Laut dem ISI-Forscher unterschätzen klassische Prognosen die Potenziale des Fahrrads bislang massiv. »Treiber im Radverkehr sind sichere, komfortable und durchgehende Netze. Nicht absteigen, nicht die Verkehrsseite wechseln müssen«, erläutert er.

Entscheidend für ein gutes Radklima ist laut der Studie eine einladende Infrastruktur. Die Radwege müssten zudem vom Autoverkehr getrennt und geschützt werden. Nötig seien auch gute Schnittstellen zu Bus und Bahn, fahrradfreundliche Städte und Gemeinden der kurzen Wege, Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit und umgestalteter Parkraum. Dann würde der Anteil des Autoverkehrs in der 30-Kilometer-Entfernung um die Hälfte sinken. Allerdings erzeugt ein »Fahrradland plus« auch anderswo ein Minus: Etwa ein Drittel der zu Fuß zurückgelegten Wege würde vom Drahtesel übernommen.

Claus Doll betont deshalb: Wolle man zu fairen Verkehrslösungen kommen, müsse der gesamte Umweltverbund – Füße, Fahrrad, ÖPNV – betrachtet werden. Dazu bräuchte es ganzheitliche Verkehrsentwicklungspläne. Das sei die Botschaft der Wissenschaft an die Politik.

Eine Verdreifachung des Radverkehrsanteils wäre auch klimapolitisch von Bedeutung: Ab 2025 würden laut der ISI-Studie die CO2-Emissionen um 19 Millionen Tonnen jährlich sinken. Ein Teil der Leute würde demnach das Auto stehen lassen oder ganz abschaffen. Bei der Bestimmung des Klimaeffekts wurden auch die CO2-Emissionen berücksichtigt, die durch den Strom entstehen, mit dessen Hilfe die E-Bikes hergestellt und geladen werden. Ein klimaneutrales Stromsystem ist daher ebenfalls wichtig. ADFC-Chef Masurat meint dennoch: Wenn Deutschland es mit Klimazielen und hoher Lebensqualität ernst meine, müsse das Fahrrad der »Goldstandard« für die alltägliche Mobilität sein.

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