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»Der Mehrheit geht es heute schlechter als 2011«
Die Sozialwissenschaftlerin Isobel Frye hält die Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitswesen Südafrikas für verfehlt
30 Jahre nach dem Ende der Apartheid könnte der African National Congress (ANC) erstmals seine absolute Mehrheit im Parlament verlieren. Was sind die Hauptgründe?
In erster Linie eine gereifte Demokratie. Die Regierungspartei war die bedeutendste Befreiungsbewegung, die uns in die Demokratie geführt hat, aber jetzt wollen die Leute Veränderung. Die Gründe dafür liegen in Armut, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit. Der Mehrheit der Menschen geht es heute deutlich schlechter als 2011, als die Armut am geringsten war. Damals war der soziale Wohlstand auf dem Höhepunkt und die Beschäftigungszahlen stiegen. Aber unsere exportorientierte Wirtschaft ist nicht auf Teilhabe und Umverteilung ausgerichtet, entsprechend wenig Priorität sehen wir bei Staatsausgaben für Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau oder Sozialleistungen. Im Gegenteil: Es gibt reale Kürzungen, gerade im Bildungs- und Gesundheitswesen äußerst signifikant. Das betrifft die Mehrheit der Menschen direkt.
Der ANC wirbt derweil mit dem Slogan: »Lasst uns mehr tun. Zusammen.« Klingt, als wäre man auf einem guten Weg. Was hat die Partei denn bisher in der Regierung erreicht?
Isobel Frye ist Leiterin des Social Policy Initiative (SPI) in Johannesburg. Die Organisation arbeitet hauptsächlich zu sozialpolitischen Programmen und setzt sich für die Einführung einer universellen Grundsicherung ein. Mit ihr sprach für »nd« Christian Selz.
Sie hat die Gesetze und Programme der Aparheid-Ära überholt. Das muss man anerkennen. In den ersten fünf Jahren wurde jedes Gesetz, das mit Apartheid zu tun hatte, umgeschrieben. Das war wichtig. Sie hat gebührenfreie Schulbildung an 60 Prozent der staatlichen Schulen eingeführt, was lange Zeit für vollkommen unmöglich gehalten wurde. Durch die Ausweitung der Studierendenförderung können heute deutlich mehr schwarze Studierende einen Hochschulabschluss machen. Das Unterrichtsniveau ist jedoch niedrig. Das öffentliche Gesundheitswesen steht in der Kritik. Es ist aber wichtig zu sehen, dass wir diese Strukturen überhaupt haben. In vielen Entwicklungsländern gibt es das nicht, selbst in den USA gibt es für viele Menschen keine öffentliche Gesundheitsversorgung. Aber die Kürzungspolitik führt zu Stellenstreichungen beim Pflegepersonal und bei Hilfskräften, das Krankenhausmanagement ist erschreckend und junge Ärzte klagen über Überarbeitung. Zugleich reguliert der Staat die private Gesundheitsversorgung kaum. Enorme Summen, die in ein universales Gesundheitswesen fließen könnten, landen so als Profite der Versicherungsunternehmen an den Börsen.
Im ANC wird seit mehr als einem Jahrzehnt über ein einheitliches, öffentliches Gesundheitswesen und über eine soziale Grundsicherung debattiert, aber die von der Partei gestellte Regierung setzt die Vorhaben nicht um. Kann sie sich nicht gegen die Interessen der Reichen und der Privatwirtschaft durchsetzen?
Was wir in Diskussionen um politische Programme oft übersehen, ist die Türsteher-Rolle des Finanzministeriums. Das wird stark von der Privatwirtschaft beeinflusst. Ich habe in Besprechungen gesessen, in denen ANC-Minister sich klar für höhere Sozialausgaben ausgesprochen haben, während andere ANC-Minister sich dagegengestellt haben. Es gibt in der Partei keine klare Linie. Die Sozialreformen, die der progressive Teil des ANC durchsetzen will, werden immer wieder vom Finanzministerium gestoppt.
Südafrikas Regierung setzt auf Wirtschaftswachstum und ausländische Investoren, verfolgt außenpolitisch aber einen deutlich anti-westlichen Kurs. Wie geht das zusammen, sieht sie die Orientierung hin zum Brics-Staatenbund mit Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika als Lösung?
Ich glaube nicht, dass der Einfluss des Finanzministeriums bis in die Außenpolitik reicht. Was wir dort sehen, ob es die Unterstützung für Palästina ist oder die für Russland, die Übernahme von Brics-Standpunkten, ist Ausdruck der langzeitigen politischen Verortung des ANC. Dahinter stehen traditionelle Loyalitäten und der Wunsch, den Einfluss westlicher Länder und der internationalen Finanzinstitutionen zurückzudrängen. Natürlich ist man im Finanzministerium sehr darum bemüht, Auslandsinvestitionen zu erhalten. Aber vielleicht denken sie auch strategisch und glauben an einen größeren Nutzen durch eine stärkere Annäherung an China und die neuen Brics-Mitglieder im Mittleren Osten.
Kann die Brics-Anbindung die soziale Situation in Südafrika verbessern, indem die Abhängigkeit vom Westen verringert wird?
Es gibt starke konservative Kräfte bei der Weltbank und im Internationalen Währungsfonds, die sich gegen universale soziale Sicherungsprogramme aussprechen. Etliche westliche Länder ziehen ihre Entwicklungshilfezusagen zurück. Zugleich ist Brics aber sehr still, wenn es um Sozialprogramme geht. Wir argumentieren gegenüber der südafrikanischen Regierung, das eine Ausweitung der sozialen Absicherung mit den Programmen anderer Brics-Länder übereinstimmen würde – China zum Beispiel hatte sehr erfolgreiche Armutsbekämpfungsinitiativen. Aber wir stoßen dabei auf wenig Enthusiasmus.
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