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»In der Gruppe fühlen wir uns stärker«
Außerparlamentarische Bündnisse gegen rechts streben in die Kommunalpolitik. Sehr unterschiedliche Parteien treten dabei gemeinsam an. Hilft das?
Kaum sind die Friedenstauben in den Himmel über dem Grimmaer Marktplatz gestiegen, rollen Jonas Siegert und Volkmar Wölk die Fahne aus. Das Tuch in den blau-gelben Farben der Ukraine sorgt für scheele Blicke bei einigen Umstehenden. Rund 100 Menschen sind zu einer städtischen Kundgebung mit dem Titel »Grimma für den Frieden« gekommen. Sie findet am 8. Mai, genau 79 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, vor dem Rathaus der sächsischen Kleinstadt statt, die unweit von Leipzig an der Mulde liegt. Ein früherer Landrat singt zur Gitarre Protestsongs aus der Zeit des Vietnamkriegs, ein Mädchen stimmt Udo Lindenbergs »Wozu sind Kriege da?« an. Oberbürgermeister Matthias Berger nennt es »unfassbar«, dass es wieder Krieg in Europa gibt. Wer diesen entfesselt hat, dazu äußert sich der parteilose Rathauschef allerdings nicht: Er wolle »nicht bewerten, was die Ursachen sind«. Ihm gehe es darum, das »Banner des Friedens hochzuhalten, statt Begeisterung über Waffenlieferungen zu schüren«. Siegert und Wölk halten derweil das Banner des Landes hoch, dem Waffenlieferungen bisher geholfen haben, dem russischen Angriff standzuhalten.
Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.
Die beiden sind es gewohnt, ihre Haltung auch dort zu vertreten, wo sie nicht unbedingt populär ist. Sie engagieren sich im Bündnis »Grimma zeigt Kante«, das im Februar 2022 gegründet wurde, um wöchentlichen Demonstrationen von Querdenkern entgegenzutreten. Als im Mai 2022 die Alternative für Deutschland (AfD), die in Sachsen als rechtsextrem eingestuft ist, ihren Thüringer Landeschef Björn Höcke nach Grimma einlud, reagierte das Bündnis mit einem »Fest für die Demokratie«. In seiner Selbstbeschreibung heißt es: »Unsere Alternative heißt Menschlichkeit, Vielfalt und Solidarität.« Es ist eine Haltung, die in der sächsischen Provinz von vielen nicht mehr geteilt wird. Bei der Bundestagswahl 2021 wurde die AfD in Grimma mit knapp 28 Prozent stärkste Partei.
Nun droht auch bei der sächsischen Kommunalwahl am 9. Juni ein massiver Rechtsruck. Es steht zu befürchten, dass die AfD in vielen Kreistagen und Stadträten deutlich zulegt oder gar stärkste Kraft wird. »Grimma zeigt Kante« beschloss angesichts dessen, sich nicht mehr nur auf außerparlamentarische Aktivitäten zu beschränken, sondern sich auch für das Kommunalparlament im rund 29 000 Einwohner zählenden Grimma als Alternative zur »Alternative« zu empfehlen. Sieben Bewerber werden aufgeboten. Neben Bündnisgrünen und Parteilosen gehören dazu mit Wölk und der bisherigen Landtagsabgeordneten Kerstin Köditz zwei Linke. Der erst 19-jährige Spitzenkandidat Jonas Siegert ist dagegen FDP-Mitglied. Dass Liberale und Linke kooperieren, sagt er amüsiert, »ist bundesweit vermutlich einzigartig«.
Abgesehen davon, dass Siegert keinem Klischee eines FDP-Politikers entspricht, ist das Wahlbündnis auch der Versuch, in einem zunehmend widrigen politischen Umfeld zumindest auf der untersten politischen Ebene Kräfte zu bündeln. Bei den Wahlen für den Kreistag treten die Mitglieder von »Grimma zeigt Kante« für ihre jeweiligen Parteien an, teils im gleichen Wahlkreis gegeneinander. In der Stadt ziehen sie an einem Strang. Zwar hätte die Linke, die bisher mit zwei Sitzen im Rat vertreten ist, auch erneut eine eigene Liste anmelden können, sagt Köditz: »Aber in der Gruppe fühlen wir uns stärker, als wenn jeder nur für sich antreten würde.«
Ohnehin sei in zwei Jahren außerparlamentarischer Aktivität viel Vertrauen gewachsen. Als die Bündnismitglieder bei einem Arbeitsfrühstück zu Beginn des Wahlkampfes jeweils notierten, was ihnen in der Kommunalpolitik wichtig ist, »hatten wir alle fast die gleichen Punkte auf dem Zettel stehen«, sagt Siegert. Bei ihm hätten mehr Bürgerbeteiligung und Transparenz ganz oben gestanden. Grimmas Rathauschef Berger, der bei der Landtagswahl im Herbst als Spitzenkandidat der Freien Wähler antritt und gern in Stammtischmanier über das politische System und die Parteiendemokratie herzieht, stehe kritischer Beteiligung aus der Bürgerschaft nach über zwei Jahrzehnten im Amt alles andere als offen gegenüber; viele Stadträte seien ihm in über die Jahre gewachsenen Abhängigkeitsverhältnissen unkritisch verbunden: »Das ist nicht gut für die Demokratie«, sagt Siegert.
Der Wahlantritt von »Grimma zeigt Kante« ist kein Einzelfall in Sachsen. Eine gute Autostunde entfernt liegt im Erzgebirge die Universitätsstadt Freiberg. Dort gibt es seit Sommer 2019 das Bündnis »Freiberg für alle«. Es engagiert sich auf vielfältige Weise für Zusammenhalt und Toleranz in der Bürgerschaft. Man setze sich für eine »offene, lebenswerte und demokratische« Stadt ein, heißt es über das eigene Selbstverständnis. Überregional sorgte das Bündnis mit einem Offenen Brief für Aufsehen, der auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie angesichts regelmäßiger Querdenker-Aufmärsche in Freiberg mit oft vierstelligen Teilnehmerzahlen jenen eine Stimme geben wollte, die nicht in Verschwörungstheorien und Wissenschaftsfeindlichkeit einstimmen wollten. Mehr als 5300 Menschen unterschrieben.
Auch »Freiberg für alle« war bisher zwar sehr aktiv in der Stadt, aber nicht in der Stadtpolitik. Dass sich das ausgerechnet jetzt ändert, begründet Professor Armin Müller mit einem Zitat des Schriftstellers Erich Kästner. Dieser habe sinngemäß geschrieben, »dass man das Jahr 1933 schon ab 1928 bekämpfen«, sprich: der NS-Diktatur rechtzeitig hätte entgegentreten müssen. Derzeit, sagt Müller, beobachte er eine »starke Änderung der gesellschaftlichen Debatte«. Befördert von extrem rechten Kräfte wie der AfD und den noch radikaleren Freien Sachsen, »kippt es«: Mitmenschlichkeit und Solidarität nehmen ab, Hass und Hetze greifen um sich. Eine »Zäsur« sei das Potsdamer Treffen gewesen, bei dem Vertreter der extremen Rechten Deportationspläne für Menschen mit Migrationshintergrund debattierten. »Dagegen«, sagt Müller, »muss man etwas tun.«
Müller ist ein bekanntes Gesicht in der Freiberger Wirtschaft. Er baute einst die Solarindustrie in der Stadt mit auf, die zeitweise für Tausende Arbeitsplätze sorgte, und war Geschäftsführer bei einem Projekt, das Lithiumvorkommen im Osterzgebirge erschließen will. Politisch, sagt Müller, habe er sich dagegen zuletzt »am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz in Berlin« engagiert: bei der größten Kundgebung im Wendeherbst in der DDR. Nach fast 35 Jahren sei nun der Zeitpunkt gekommen, wieder aktiv zu werden, sagt er und zitiert einen derzeit häufig gebrauchten Satz zur Begründung für seine Kandidatur: »Nie wieder ist jetzt!«
Müller ist nun einer der Kandidaten von »Freiberg für alle« zur Wahl des Stadtrats. Eine andere Bewerberin ist Anne Mertens, die als Amtsrichterin tätig ist. Als solche sei die »dem Grundgesetz und der Demokratie extrem verpflichtet«, sagt sie. Lange habe sie diese als selbstverständlich angesehen: »Wir haben in einer Wohlfühlblase gelebt.« Mittlerweile sei klar, dass die Demokratie verteidigt werden müsse, auch durch aktives Engagement: »Zu Demonstrationen gehen reicht nicht mehr.«
Mertens entschloss sich auch deshalb zur Kandidatur, weil sie sich von den Parteien im Kommunalparlament nicht mehr vertreten fühlte. Dort beobachtet sie eine »schleichende Tendenz nach rechts, die ich ablehne«. 2018 verfügte der Stadtrat fast einhellig einen »Zuzugsstopp« für Migranten; Oberbürgermeister Sven Krüger drohte, Kosten für deren Aufnahme der Bundeskanzlerin in Rechnung zu stellen. Örtliche CDU-Politiker schwenkten schon vor Jahren mit ihren »Freiberger Thesen« auf einen Kurs offener Anbiederung an die AfD ein. Kritisch sieht Mertens auch eine umstrittene Rede des Rathauschefs bei einem Opernball im Sommer 2023 im russischen Sankt Petersburg, während der Krieg in der Ukraine tobte: »Das ist nicht das, wofür ich ihn mal gewählt habe.« Im laufenden Kommunalwahlkampf sorgte die örtliche SPD, der Krüger einst angehörte, mit einer Einladung der Publizistin Gabriele Krone-Schmalz für Aufsehen, die für ihre russlandfreundlichen Positionen kritisiert wird. Die Grünen luden daraufhin demonstrativ die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies ein.
Trotz solcher Kontroversen hätte Jana Pinka gern auch Bewerber von SPD und Grünen auf einer gemeinsamen Freiberger Kandidatenliste gesehen. »Ich hätte mir eine starke Bürgerliste gewünscht, um eine Zersplitterung des progressiven Lagers zu vermeiden«, sagt die langjährige Landtags- und Stadtratsabgeordnete der Linken. Sie gehört zu den Mitbegründern von »Freiberg für alle« und strebt jetzt auch für das Bündnis in den Stadtrat, trotz Unmuts in ihrer Partei, die eine eigene Bewerberliste aufgestellt hat. Auch SPD und Grüne hielten an eigenen Kandidaturen fest. Im Bündnis wiederum hätten einige langjährige Aktive den Schritt in die Kommunalpolitik nicht mitgehen wollen, ein Pfarrer etwa oder der Intendant des örtlichen Theaters, der auf seine Neutralitätspflicht verwiesen habe.
Viele aber wollen künftig im Stadtrat mitentscheiden. »Wenn man etwas verändern will, muss man dort vertreten sein«, sagt Pinka. Insgesamt gelang es »Freiberg für alle«, 26 Bewerber zu gewinnen. Das sind mehr als AfD und Freie Sachsen zusammen aufbieten. Wie viele von ihnen es tatsächlich in den Stadtrat schaffen, entscheiden die Freiberger Wähler am 9. Juni.
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