Erinnerung an Walter Lübcke: 500 Luftballons für die Demokratie

In Kassel fand ein Gedenken an den Tod von Walter Lübcke statt, das allerdings wenig Hoffnung ausstrahlte

  • Silvia Hable
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Gedenkveranstaltung für Walter Lübcke in Kassel war auch eine Demonstration für eine vielfältige Gesellschaft.
Die Gedenkveranstaltung für Walter Lübcke in Kassel war auch eine Demonstration für eine vielfältige Gesellschaft.

Bunt soll es zugehen, wenn die tausend geladenen Gäste aus Politik und Zivilgesellschaft nach dem Gedenken an den 5. Todestag von Walter Lübcke auf dem »Fest für Demokratie« 500 Luftballons als »Zeichen für Vielfalt« in den Himmel steigen lassen. Vielfältig ist auch das Programm der Veranstaltung gehalten, zu der der nordhessische Verein »Offen für Vielfalt« gemeinsam mit dem Regierungspräsidium Kassel und der evangelischen Gemeinde der Martinskirche eingeladen hat für diesen Sonntag. Hier singt in der ehrwürdigen Martinskirche zu Kassel ein getragener Chor, dort gibt es christliche Fürbitten, dazwischen Reden von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und dem hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein (CDU). Ein wenig fröhlich soll es auch sein mit Brasssounds vom internationalen Bildungs- und Musikprojekt Banda Comunale und Poetry-Slam von Schüler*innen der Walter-Lübcke-Gesamtschule aus Wolfhagen.

Es hätte ihm bestimmt gefallen, sind sich viele sicher. Und so wird in den Reden auch öfters Bezug genommen, was Lübcke, konservativer CDU Politiker und Regierungspräsident Nordhessens, heute alles machen, sagen und unternehmen würde – für die Demokratie und gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft. Lübcke, der vor fünf Jahren in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni von dem Rechtsextremen Stephan Ernst auf seiner Terrasse heimtückisch erschossen wurde, wurde 2015 vor allem bekannt durch seinen Einsatz für Geflüchtete.

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Ein »Held des Tuns« sei er gewesen, erinnert Steinmeier, ein »aufrechter Demokrat, der sich für das Gemeinwesen engagiert« habe. Er hätte die »Werte des Grundgesetzes gelebt«, ergänzt Rhein in seiner Hommage und erinnert an Lübckes »dauerhaften Auftrag, mit aller Entschlossenheit gegen Hass und Hetze vorzugehen«.

Hier setzt Steinmeier überraschend deutlich an: Er mahnt, dass der rechte Terror, der der Tat zugrunde lag, schon viel früher, nämlich 1988 in München beim Anschlag auf das Oktoberfest begonnen habe, über Hoyerswerda, Solingen, Mölln und den NSU weitergezogen sei und leider auch am 2. Juni 2019 kein Ende gefunden habe. Viele Fragen zum Tathergang seien auch nach ausführlichen juristischen und politischen Aufklärungen weiterhin offen. Ob und vor allem wie die Tat hätte verhindert werden können, dazu gab es erbitterte Dispute zwischen schwarz-grüner Regierung und der Opposition im letzten hessischen Landtag.

So wurde der Täter Ernst, der vom Verfassungsschutz beobachtet worden war, als »abgekühlt« bezeichnet, sein politisches Betätigungsfeld bei neurechten Organisationen wie Kagida oder AfD wurde vom Verfassungsschutz lange als bürgerlich verharmlost. Seine Akte wurde im Rahmen von Umstrukturierungsverfahren innerhalb der Behörde aussortiert. Torsten Felstehausen, der für Die Linke im hessischen Landtag im Lübcke-Untersuchungsausschuss mitarbeitete, hält dieses »Massenverfahren ohne Prüfung« für fahrlässig. »Dass dieser Vorgang insgesamt nicht nur eine, sondern 1345 Personen betroffen hat, ist desaströs«, sagte er dem »nd«. Er erinnert daran, dass die Linkspartei in ihrem Sondervotum zum Abschlussbericht eine deutliche Reduzierung des legalen und illegalen Waffenbesitzes als Konsequenz gefordert hatte. Hierzu sollten die Inhaber*innen von waffenrechtlichen Erlaubnissen zwingend ein fachpsychologisches Attest vorlegen müssen. Ebenso wurde eine lückenlose Verbleibskontrolle aller Waffen verlangt. Beide Forderungen wurden bis heute nicht umgesetzt.

Steinmeier selbst gibt allerdings freimütig zu, dass »wir im Ergebnis nicht genug getan haben, um die Tat abzuwenden. Viel zu lange haben wir an der Einschätzung festgehalten, es mit Einzeltätern oder vielleicht einer kleinen Bande zu tun zu haben.« Er ruft deshalb dazu auf, sich »heute gegen rechten Terror« genauso entschieden zur Wehr zu setzen, wie zu RAF-Zeiten der »linksextremistische Terror mit großer politischer Entschlossenheit bekämpft wurde«.

Denn, mahnt er, »Rechtsextremismus ist nicht etwas, was einfach verschwindet, nur weil er sein Erscheinungsbild geändert hat, salon- und partyfähig geworden ist und im feinen Anzug, unterstützt von vermögenden Spendern und das Parteiensystem nutzend, weit in parlamentarische Strukturen hineinwirkt«. Im Gegenteil, so Steinmeier, das politische Klima werde nachhaltig beeinflusst, die Grenzen des Sagbaren ins Unsägliche weiter verschoben, Mandatsträger*innen und Menschen im Wahlkampf auf offener Straße angegriffen.

Es brauche einen »wachen und schnell reagierenden Rechtsstaat, eine gute politische Bildung und Zusammenhalt in der Parteienlandschaft und Zivilgesellschaft«, fordert der Bundespräsident. Jeder Einzelne sei auch dafür verantwortlich, was er auf den sozialen Medien teile, welche Lieder er mitsinge und über welche Witze er lache. Steinmeier ist sich sicher, dass die »Mehrheit hinter den demokratischen Strukturen« stehe.

Doch für die Tatsache, dass Umfrageergebnisse immer wieder ermitteln, dass mehr als 60 Prozent aller Ostdeutschen und mehr als 50 Prozent aller Westdeutschen unzufrieden mit der Demokratie sind, wie sie jetzt gelebt wird – dafür liefert der Bundespräsident ebenso wenig konkrete Lösungsvorschläge wie der amtierende Regierungschef von Hessen. Rhein bedauert, dass Lübckes Tod »nicht wenigstens etwas zum Besseren verändert hat« in der Gesellschaft. Im Gegenteil: Rücksichtsloser, rauer und radikaler sei das Klima geworden. Nationalismus, Hass und Verachtung der Demokratie nehme zu, genauso wie Angriffe auf Politiker*innen. Inwiefern Äußerungen und Politik seiner eigenen Partei oder der Umgang mit den Ergebnissen aus dem Lübcke Untersuchungsausschuss in dieser Dynamik hilfreich oder vielleicht sogar negativ verstärkend wirken, thematisiert er nicht.

Eine notwendige Zäsur beim hessischen Verfassungsschutz, seine radikale personelle Neuorientierung, sein organisatorischer Umbau, die Überprüfung seiner internen Prozesse sowie eine rigorose parlamentarische Kontrolle, ist jedenfalls ausgeblieben.

Auch eines der leidenschaftlichen Projekte Lübckes, die Aufnahme von Menschen in Not, ist derzeit in Gefahr: Stark gesunken ist in der aktuellen Shell-Jugendstudie gegenüber der Erhebung von 2019 die Zustimmung zur Aufnahme vieler Flüchtlinge. 57 Prozent waren damals dafür, in der vorliegenden Studie sind es nur noch 26 Prozent. »Hier hat offensichtlich ein heftiger Meinungsumschwung in der jungen Generation stattgefunden«, schreiben die Autoren. Aus der Erhebung ergebe sich für die Politik »das eindeutige Signal, dass sie auch im Blick auf die junge Generation eine Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik betreiben müssen, die das positive Potenzial von Migration für die Zukunft in Deutschland fördert und lösungsorientiert mit den damit verbundenen Ängsten umgeht«, heißt es.

Wäre Lübcke noch da, wäre er sicher einer derjenigen, der das derzeitige Kommunikationsdefizit in dieser Sache zu füllen wüsste.

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