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Wut gegen Wahlplakate wie ein Tornado
In Brandenburg sind stellenweise bis zu 90 Prozent der Partei-Wahlwerbung abgerissen oder beschmiert
»Der Verlust ist enorm groß«, beklagt Petra Budke. Die Fraktionschefin der Grünen im brandenburgischen Landtag kannte das bisher noch überhaupt nicht aus Dallgow-Döberitz, wo sie wohnt. Doch jetzt sei dort mindestens ein Drittel der Plakate zur Kommunal- und Europawahl am 9. Juni zerstört worden. Auch die Bedrohung und Beleidigung der Wahlkämpfer habe zugenommen. Darüber hinaus seien in Senftenberg Fäkalien an ein Wahlkreisbüro geschmiert worden – es war das Büro von Budkes Tochter Ricarda, die ebenfalls Landtagsabgeordnete der Grünen ist.
Es komme inzwischen auch vor, dass pöbelnde Menschen in die Wahlkreisbüros eindringen, berichtet Petra Budke am Dienstag. Die Türen müssten deswegen nun abgeschlossen werden, um die Mitarbeiter der Abgeordneten vor Übergriffen zu schützen. Viele der Büros sind in Ladenzeilen untergebracht und verfügen neben dem Eingang zur Straße auch über einen Fluchtweg zum Treppenhaus – aber nicht alle.
Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.
Der Landtagsabgeordnete Clemens Rostock (Grüne) erzählt am Dienstag, dass seine Partei im Landkreis Oberhavel auf beschädigte Wahlplakate schreibt: »Plakate sind zerstörbar, unsere Haltung für Demokratie nicht«. Das sei wirksamer, als diese Plakate stillschweigend wegzuräumen.
Der Landtagsabgeordnete Ludwig Scheetz (SPD) versichert für die sozialdemokratischen Kandidaten: »Sie lassen sich nicht einschüchtern.« Dass Wahlkämpfer am Infostand sich den einen oder anderen Spruch anhören müssen, hat es laut Scheetz immer gegeben. Nach seiner rein subjektiven Wahrnehmung ist dies zwar nicht schlimmer geworden. Er weiß aber, dass es ein verschärftes Debattenklima gebe und auch, dass so manche Straße mit heruntergefetzten Plakaten aussehe, als sei da ein Tornado durchgezogen. An Großflächen anderer Parteien werde geschmiert: »Wählt die AfD!« Die AfD trage erhebliche Verantwortung für die Verschärfung des Tons.
»Körperliche Übergriffe sind mir zum Glück nicht bekannt«, sagt Scheetz. Es hat aber welche gegeben. In Schöneiche sind Ende April zwei Kandidaten der Linken für die Gemeindevertretung von Jugendlichen attackiert worden. Mindestens einer rief dabei Parolen, die der rechten Szene zuzuordnen sind. Die Angreifer zerstörten ein gerade angebrachtes Plakat und pöbelten. Einer versuchte, die Kandidaten zu schlagen. Diese konnten zwar flüchten, doch einer stürzte und verletzte sich dabei.
»Wir haben ein riesiges Problem mit Rechtsextremismus in diesem Land. Wir haben ein riesiges Problem mit gewaltbereiten Neonazis«, erklärt Linksfraktionschef Sebastian Walter. »Es darf nicht sein, dass man Angst haben muss am Infostand«, findet er. Nun ist es aber so. Es gebe eine massive Zunahme von Bedrohungen, Beleidigungen und sogar Gewalt. Wenn nicht gehandelt werde, könnte es nach Auffassung von Walter schlimmer werden als in den 1990er Jahren. Die werden heute als Baseballschlägerjahre bezeichnet. Denn damals zogen Skinheads mit Baseballschlägern durch die Straßen. Sie verletzten und töteten schwarze Menschen und linke Jugendliche.
Auch der Abgeordnete Péter Vida (Freie Wähler) fühlt sich an die Verhältnisse vor über 20 Jahren erinnert. Er sieht eine »Enthemmung im Diskurs« im Internet, die überschwappt. Er spricht von einer gewissen »Verrohung der Kultur« und erheblicher »Zerstörungswut«, die finanzielle Schäden verursache. »Kein Vorwurf an die Polizei«, betont Vida. Die Aufklärungsquote bei den Sachbeschädigungen sei ja besser als vor zehn Jahren.
Linksfraktionschef Walter sagt, in einigen Gegenden seien 80 bis 90 Prozent der Wahlplakate zerstört worden. Auch CDU-Fraktionschef Jan Redmann registriert, was schwer zu übersehen ist: »Die Hemmschwelle, Plakate abzureißen, ist gesunken.« Redmann erlebte an Infoständen, wie seine Parteifreunde von Passanten unvermittelt angebrüllt worden sind. Von Beruf Rechtsanwalt, beklagt der Politiker diesen niveaulosen Umgang miteinander, selbst wenn die Schwelle zur strafbaren Handlung noch nicht überschritten werde. Er sagt: »Auch wenn AfD-Plakate heruntergerissen werden, ist das nicht zu rechtfertigen.« Das gelte ebenso für Plakate der Linken. »Gleiches Recht für alle in der Demokratie!«
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