Europawahl: »Wallah, ich hab’ AfD gewählt«

Die Europa-Wahl ist für viele Jugendliche irrelevant. Das zeigt ein Besuch im Jugendclub Lynar in Berlin-Wedding

  • Tom Gath
  • Lesedauer: 6 Min.
Für die Kids aus dem Jugendclub Lynar ist die Europa-Wahl quasi kein Thema.
Für die Kids aus dem Jugendclub Lynar ist die Europa-Wahl quasi kein Thema.

Eigentlich wollte der 14-jährige Oktay* nur kurz die Taktik für das anstehende Fußballspiel besprechen. Doch nach der Juniorwahl gefragt, platzt es aus ihm heraus: »Wallah, ich hab’ AfD gewählt. Ich will zurück in mein Land.« Obwohl er akzentfrei Deutsch spricht, ist sein Land offenbar nicht Deutschland. Und auch in seinem Ortsteil Wedding in Berlin, wo der ethnische Türke aus Bulgarien schon viele Jahre lebt, würde er seine Kinder später nicht gerne großziehen – »nachts viel zu gefährlich«.

Rund eine Woche vor der Europawahl steht Oktay vor dem Eingang des Weddinger Jugendclubs Lynar. Zwischen einem Fußballplatz und einem Mehrfamilienhaus liegt das rote Backsteingebäude, in dem Jugendliche Abwechslung zu ihrem oft tristen Alltag finden. Die meisten von ihnen haben einen Migrationshintergrund, viele dürfen spätestens bei der Europawahl in fünf Jahren erstmals wählen. Die Mitarbeiter der Lynar versuchen, mit den Wählern von morgen ins Gespräch zu kommen, obwohl der Kernauftrag des Jugendclubs eigentlich nicht die politische Bildung ist.

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Ob Oktay denn weiß, was gewählt wird, hakt der Erzieher Freddy Pitschak nach, der ebenfalls im gepflasterten Innenhof steht. Im EU-Parlament kommen Leute aus ganz Europa zusammen und besprechen irgendwas, das hat ihm seine Lehrerin erklärt, antwortet Oktay. »Ich hab’ aber nicht richtig zugehört.« Was Nazis eigentlich sind, warum sie eher in ethnisch homogeneren Bezirken wie Köpenick leben und was passieren könnte, wenn sie wirklich an die Macht kommen – all das kann Pitschak erst ein paar Minuten später erklären.

Vorher zückt Oktay sein Iphone und zeigt ein Video auf Tiktok: Ein Berliner Polizist prügelt brutal auf einen Mann ein. Selbst als der schon in einen Hauseingang taumelt, hagelt es weitere Faustschläge. Angeblich soll es am Rande einer Demonstration gegen den israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen aufgenommen worden sein. Überprüfen lassen sich diese Angaben nur schwer. Auch, was zuvor passiert sein könnte, ist auf dem kurzen Clip nicht zu sehen. Oktay fragt dennoch enttäuscht: »Ich dachte, Deutschland ist ein Land, wo man seine Meinung frei sagen kann?«

Pitschak, 34 Jahre alt, kennt seine Jungs und Mädchen. Schon vor der Begegnung mit Oktay erklärt er, dass Politik für die überwiegend migrantischen Jugendlichen nur relevant ist, wenn es um den Nahen Osten oder um das fehlende Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Mehrheitsgesellschaft geht. »Die Europawahl ist eigentlich kein Thema. Einige sagen, sie würden die AfD wählen, weil sie es witzig finden oder provozieren wollen.« Um das zu ändern, organisiert er in Kooperation mit dem Deutschen Bundesjugendring in der Lynar eine simulierte Wahl für Jugendliche unter 16.

Hinter einer Tafel mit einer großen Europakarte und den Wahlprogrammen der sieben relevantesten Parteien steht die Wahlurne auf einem Tisch mit integriertem Schachbrett. Im Hintergrund läuft laute Rapmusik. Nach einer Partie am Billardtisch ergreift die 12-jährige Nuri* von sich aus die Initiative. »Die will ich wählen«, sagt sie ungeduldig und zeigt auf das Logo der CDU. »Warum?«, fragt Pitschak interessiert. »Das ist die Partei von Merkel«, entgegnet Nuri. Pitschak liest die Position der CDU in 150 Zeichen vor: »Wir stehen für ein Europa, das Frieden und Wohlstand sichert, keine Schulden macht, Migration begrenzt und die Sicherheit seiner Bürger garantiert.«

Nuri blickt ihn fragend an, das Wort Migration kennt sie nicht. Pitschak versucht es einfacher: »Migration begrenzen heißt weniger Ausländer. Die AfD will gar keine Ausländer nach Deutschland lassen, die CDU nur manche, wenn sie nützlich sind.« Nuri wirkt genervt, nicht nur von den komplizierten Wörtern, sondern auch vom Thema Migration. »Ich will was ohne Ausländer wählen, es sollen einfach alle in Frieden zusammenleben«, sagt sie. Pitschak liest die 150 Zeichen über die Linkspartei vor, die mit Gleichberechtigung und Schutz vor Diskriminierung wirbt. Bevor er den Text der anderen Parteien vorlesen kann, setzt Nuri sich an den kleinen Tisch, macht ihr Kreuz und wirft den Umschlag in die Box. 300 Zeichen Parteipolitik reichen ihr für heute, sie will jetzt lieber »Vier gewinnt« spielen. Wie sich die Wahl angefühlt hat? »Ein bisschen wie Erwachsensein«, sagt Nuri und düst mit ihrem weißen Handtäschchen davon.

In der Lynar ist heute viel los: Ein Mitarbeiter sitzt im stark nach Parfum riechenden Tonstudio und nimmt im schummrigen Licht mit drei Jugendlichen Rap-Songs auf. Die Schallisolation verhindert, dass etwas vom Auto-Tune-Sound in die anderen Räume vordringt. Statt nach Parfum riecht es dort nach Schweiß. Honorarkräfte bieten zeitgleich Geräte- und Boxtraining an. Nur die Ecke mit der Wahlurne bleibt den Rest des Tages verwaist. Nuri wird heute die einzige Wählerin bleiben.

Rafael Krause leitet den Jugendclub, dessen 50-jähriges Jubiläum vor der Tür steht, und beobachtet eine weit verbreitete Politikverdrossenheit. »Wir sind im Roten Wedding, bei den Juniorwahlen wurde hier traditionell immer viel SPD gewählt. Das war zwar auch unreflektiert und von den Familien übernommen, aber wenigstens gab es einen Plan«, erinnert sich der 42-Jährige. Mittlerweile würden sich die meisten Jugendlichen, die in die Lynar kommen, von der Mehrheitsgesellschaft vollständig abgehängt fühlen.

»Die Parteien sprechen nicht mehr die gleiche Sprache wie die Jugend«, sagt Krause, während er neben einem großen Plakat steht, das in Layout-Lehrbüchern als Paradebeispiel für eine Bleiwüste abgedruckt sein könnte. Der Bundesjugendring hat die Positionen von fünf Parteien zu 16 Themenfeldern in Miniaturschrift auf fast 200 Zeilen ohne Bilder gequetscht. »Das ist für unsere Kids viel zu viel Text«, sagt Krause.

Das geschriebene Wort auf Papier scheint ohnehin ausgedient zu haben: Der 14-jährige Oktay verbringt täglich mehr als vier Stunden auf der Social-Media-Plattform Tiktok. Sein Freund kann diese Zeit sogar überbieten. Sieben Stunden und 43 Minuten tägliche Nutzungszeit zeigt sein Smartphone an. Lediglich beim Essen wechselt er von Tiktok zu Youtube – um die Hände freizuhaben, wie er erklärt. Wen sie bei der Europawahl wählen würden, das wissen beide nicht. »Mir ist egal, wer Deutschlands Meister ist. Hauptsache ich lebe«, sagt Oktay und fragt nach dem Schlüssel für den Raum mit der Playstation.

* Namen der Jugendlichen geändert

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