• Politik
  • Chiles Präsident Boric in Deutschland

Gedenkstätte Colonia Dignidad soll endlich kommen

Kanzler Scholz sagt Chiles Präsident Boric Unterstützung zu

  • Ute Löhning
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit 2017 arbeitet die chilenisch-deutsche Regierungskommission zur Aufarbeitung der Colonia Dignidad an der Errichtung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes. Bewegung kam in diesen Prozess erst im Mai 2024, als Chiles Präsident Gabriel Boric einen Enteignungsplan für Teile jener deutschen Siedlung Colonia Dignidad in Chile, die heute Villa Baviera heißt, anstieß, um dort eine Gedenk- und Dokumentationsstätte zu errichten. Während des Deutschlandbesuchs des chilenischen Präsidenten versicherte Bundeskanzler Olaf Scholz diesem seinen »vollen Respekt« und seine Unterstützung für diese Entscheidung. Er würde sich freuen, »wenn dieser Prozess jetzt Fahrt aufnimmt«, erklärte Scholz. Deutschland stehe als »freundlicher Partner« bereit, einen »Beitrag für ein solches Gedenk- und Dokumentationszentrum zu leisten«.

Boric erklärte, er freue sich sehr über die zugesagte Unterstützung. Die geplante Enteignung sei ein »bedeutender Schritt« auf dem Weg zur Aufarbeitung der Geschichte und der Verbrechen der Colonia Dignidad.

1961 hatte eine Gruppe von Deutschen rund um den Laienprediger Paul Schäfer die Sektensiedlung in Chile gegründet. Viele der rund 300 Bewohner*innen mussten jahrzehntelang Zwangsarbeit verrichten und waren sexualisierter Gewalt unterworfen. Während der chilenischen Diktatur (1973 bis 1990) kooperierte die Führungsgruppe eng mit dem Geheimdienst DINA, der ein Folterlager auf dem Gelände errichtete. Etwa hundert politische Gefangene wurden dort ermordet und verscharrt, später wieder ausgegraben und verbrannt. Ihr Schicksal ist bis heute nicht aufgeklärt, sie gelten als verschwunden. Das Auswärtige Amt hatte Hilfsgesuche von Sektenangehörigen und deren Familien jahrzehntelang ignoriert. Heute ist die Siedlung als Firmenholding privater Aktiengesellschaften organisiert. Derzeit leben dort rund 130 Personen. Sie betreiben Landwirtschaft und – für die Angehörigen der Verschwundenen besonders verletzend – einen Hotel-Restaurant-Betrieb in bayerischem Stil. Einen Gedenkort gibt es bislang nicht.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Nach Angaben des Leiters der Menschenrechtsabteilung im chilenischen Außenministerium, Tomás Pascual, wird Chile nun eine Trägereinrichtung gründen, die die Umsetzung der Gedenkstätte übernehmen soll. Dabei soll ein Konzept einfließen, das ein deutsch-chilenisches Team von Gedenkstätten-Expert*innen im Auftrag der chilenisch-deutschen Regierungskommission 2021 erstellt hatte. Sie hatten darin historisch relevante Orte und Gebäude ausgewiesen, in denen zukünftig Ausstellungen die Geschichte und das Leid der verschiedenen Opfergruppen beschreiben sollen.

Die Reaktionen auf die angekündigte Enteignung sind überwiegend positiv. Bundestagsabgeordnete von Union, SPD, Grünen und Linken begrüßen den Schritt.

Verbände von Angehörigen von Verschwundenen zeigen sich erfreut. »Zum ersten Mal greift eine Regierung unsere Forderungen auf«, heißt es in einer Erklärung von drei Gruppen aus der Maule-Region. Gleichzeitig kündigen sie an, den Prozess aufmerksam zu beobachten und fordern, daran beteiligt zu werden. Es dürfe keine Zeit mehr verloren werden, denn viele Angehörige von Verschwundenen sind bereits verstorben.

Die »Vereinigung für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Würde der Ex Colonos« (ADEC), in der sich einige frühere und jetzige Bewohner*innen der deutschen Siedlung zusammengeschlossen haben, dankt Boric für die Initiative, die sie als einen »symbolischen Akt der immateriellen und moralischen Wiedergutmachung und eine Anerkennung aller Opfer der Ex Colonia Dignidad« bezeichnen. Gleichzeitig fordern sie, dass »jedwede Enteignung keinesfalls bedeuten darf, diejenigen Bewohner*innen zu vertreiben, die heute in Villa Baviera leben und versuchen, ihr beschädigtes Leben wieder aufzubauen«.

Für die Bewohner*innen der Siedlung kam die Ankündigung des Enteignungsprozesses überraschend. Viele sorgen sich darum, ob sie oder andere ihre Wohnung verlieren oder das Gelände verlassen müssen. Sehr sensibel ist auch die Frage, wer die Entschädigungszahlungen bekommt, die im Rahmen der Enteignung anfallen werden.

Der chilenische Justizminister Luis Cordero, der Boric auf seiner Deutschlandreise begleitet, erklärt dass »Entschädigungszahlungen überall auf der Welt an die (vorigen) Eigentümer gezahlt« werden. »Im Kontext des Enteignungsprozesses ist es unabdingbar, Einblicke in das Geflecht der Aktiengesellschaften zu bekommen, das die ökonomische Struktur der Villa Baviera bildet«, auch um zu klären, wer davon profitiert, sagt der Justizminister.

Die Eigentumsverhältnisse der Villa Baviera aufzuklären, ist auch eine Aufgabe der chilenisch-deutschen Gemischten Kommission. Seit 2018 war es jedoch aufgrund des Widerstands von Teilen der Aktiengesellschaften nicht möglich, Zugang zu entsprechenden Informationen zu bekommen. Daran müssten Chile und Deutschland jetzt auch arbeiten, so Cordero.

Der Forscher und Colonia-Dignidad-Experte Jan Stehle begrüßt die Enteignungsinitiative als konkreten Schritt hin zu einer Gedenk-, Bildungs- und Dokumentationsstätte. Es dürfe jedoch nicht bei Willensbekundungen bleiben. »Beide Staaten tragen Mitverantwortung für die jahrzehntelange Verbrechensgeschichte und stehen bei der Aufarbeitung gleichermaßen in der Pflicht«, so Stehle.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.