Wie singulär ist der Ukraine-Krieg?

Lothar Schröter begab sich auf die Suche nach dem »machtpolitischen Grundkonflikt unserer Epoche«

  • Stenka Rasin
  • Lesedauer: 4 Min.
Deutsche und ukrainische Soldaten stehen Spalier für den ukrainischen Präsidenten Selenskyj.
Deutsche und ukrainische Soldaten stehen Spalier für den ukrainischen Präsidenten Selenskyj.

Der Ukraine-Krieg treibt Europa und die Menschheit immer näher an den Rand einer nuklearen Konfrontation. Stetig neue Eskalationsstufen seitens Kiew und westlicher Staaten testen Moskaus »rote Linie« aus. Der Westen, gespalten in einen Block kriegsbegeisterter Akteure im US-Macht-, Wirtschafts- und Medienapparat bis hin zu den einst so pazifistischen deutschen Grünen einerseits und den auf einen raschen Frieden drängenden Kräften andererseits. Letztere sind allerdings selbst in sich zerrissen zwischen den bedingungslos alle Unterstützung den überfallenen und für ihre Freiheit kämpfenden Ukrainer fordernden Kräften und jenen, die Verhandlungslösungen und Suche nach einer Verständigung mit Moskau als einzige Möglichkeit sehen, den Krieg zu beenden. In solch verworrenen Zeiten bedarf es exakter wissenschaftlicher und historischer Analyse.

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»Jedem Krieg stehen die Friedensliebe und die Friedenssehnsucht der allermeisten Menschen gegenüber, und beides braucht es dringend, wenn die Waffen sprechen, sie aber, sobald es nur geht, wieder schweigen sollen. Doch beides reicht nicht«, schreibt Lothar Schröter. Es sei nach den Gründen zu suchen, aus denen Kriege entbrennen. Diese seien den martialischen Erklärungen von Politik und Medien entgegenzusetzen, die die Bevölkerung »kriegstüchtig« machen sollen. Immerhin haben sich viele Ostdeutsche eine gesunde Skepsis bewahrt, was ein deutsches Mittun am weiteren Ankrubeln der Gewaltspirale bedeuten würde. Dennoch sind viele Bürger kriegsmüde geworden, verdrängen die Nachrichten und hoffen auf bessere Zeiten.

Gegen diesen Trend schreibt Lothar Schröter, Militärhistoriker mit DDR-Hintergrund und gründlicher Kenntnis US-amerikanischer und Nato-Strategien an. Er erinnert in bester marxistischer Manier daran, wie Kriege zu beurteilen sind. Das Verkürzen historischer und politischer Ereignisketten auf den einen vermeintlich ersten Kriegstag helfe nicht weiter. Schröter fragt nach den Ursachen des Ukraine-Krieges, den jeweiligen Zielsetzungen und strategischen Linien, die in eine Konstellation geführt haben, in der es nur noch minimaler Anlässe bedurfte, um aus einem Schwelbrand einen veritablen Krieg mit unerquicklichen Risiken für Europa und die Welt zu entfachen.

Der Autor erinnert an den Untergang des Realsozialismus und der Sowjetunion, begleitet von einer antikommunistischen, nationalistischen Orgie, die von den USA und ihren Verbündeten gefördert wurde. Gorbatschows Perestroika konnte die Systemkrise nicht beenden, sondern aktivierte jene Kräfte, die mit Nationalismus, Geschichtsumdeutungen und klaren prokapitalistischen »Reformen« nicht nur eine Großmacht zerbröseln ließen, sondern auch jene Konfrontationen begünstigten, die nach dem Zerfall der UdSSR auch zu Konflikten zwischen den Nachfolgestaaten des Sowjetreiches führten.

Hierin ordnet Schröter die Entwicklungen in der Ukraine ein, deren neue Eliten den endgültigen Bruch mit Moskau anstrebten und begierig in Richtung Westen als dem neuen Heilsbringer blickten. Er zeigt, wie der Westen Ende der 90er Jahre die Hoffnung aufgab, dass Russland sich dauerhaft auf westlichen Kurs begebe und sich der US-Hegemonie unterordnet, die man zuvor noch mit Gorbatschow und Jelzin verbunden hatte. Immer wieder schlägt der Autor den Bogen von der heutigen Situation zurück zu den Jahrzehnten des Kalten Krieges. Den Ukraine-Krieg sieht er als einen Ausdruck der Konfrontation imperialistischer Mächte. Und er untersucht, wie diese im vergangenen Jahrhundert agierten und wovon ihre Politik geprägt war.

Die USA und ihre Verbündeten führten zur Bewahrung des kapitalistischen Weltsystems weit über 100 größere Kriege mit allen erdenklichen Mitteln und unermesslichen Opfern, von Korea über Kuba, Vietnam bis in den Nahen Osten oder Lateinamerika. Auf der anderen Seite hat die Sowjetunion, die sich immer wieder um eine Politik der friedlichen Koexistenz bemühte, die weltweit antikolonialen Befreiungsbewegungen unterstützt – eine unvollkommene Führungsmacht eines Blocks, der mit der kapitalistischen Logik zu brechen suchte. Auch wenn die UdSSR vor gut drei Jahrzehnten gescheitert ist, stehe deren größter Nachfolgerstaat, die Russische Föderation, in den Traditionen des Kalten Krieges wie der Westen, so Schröter. »Der Westen einerseits und Russland andererseits sind in die Gräben des Kalten Krieges zurückgekehrt. Und zwar mit einem vergleichbaren programmatischen Ansatz und Vorgehen wie damals: offensiv und zugleich auf die Verteidigung des eigenen Besitzstandes und der eigenen Sicherheitsinteressen bedacht.« Die jüngsten Kriege um Jugoslawien, in Irak und Libyen, im Nahen und Mittleren Osten sowie die latente Kriegsgefahr um Taiwan sprechen für diese Sicht.

Tatsache ist, wir befinden uns in einer handfesten machtpolitischen Auseinandersetzung um die künftige Weltordnung: Wollen wir weiterhin in einer von den USA dominierten unilateralen Welt leben oder in einer, sicher auch nicht konfliktarmen, aber doch flexibleren multipolaren, in der gleichberechtigt zu den großen und kleineren Staaten des Westens China, Brasilen, Südafrika oder Indien ebenso ihren Platz finden wie die anderen Länder des globalen Südens – und auch Russland?

Lothar Schröter: Der Ukraine-Krieg: Die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der Nato. Edition Ost, 348 S., geb., 32 €.

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