Günter Routhier: Vergessenes Opfer staatlicher Gewalt

Vor 50 Jahren starb Günter Routhier nach einem brutalen Polizeieinsatz

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 4 Min.
Bis heute missbrauchen Polizeibeamte das staatliche Gewaltmonopol tausendfach. Die meisten Fälle von »rechtswidriger Körperverletzung im Amt« kommen jedoch nicht zur Anzeige, weil die Betroffenen Gegenklagen fürchten. Bei den angezeigten Fällen kommt es fast immer zu Freisprüchen.
Bis heute missbrauchen Polizeibeamte das staatliche Gewaltmonopol tausendfach. Die meisten Fälle von »rechtswidriger Körperverletzung im Amt« kommen jedoch nicht zur Anzeige, weil die Betroffenen Gegenklagen fürchten. Bei den angezeigten Fällen kommt es fast immer zu Freisprüchen.

Heutzutage ist sein Name nur noch Zeitzeugen ein Begriff. Doch vor 50 Jahren war auf vielen Flugblättern und Hauswänden im Ruhrgebiet und darüber hinaus die Parole »Gerechtigkeit für Günter Routhier« zu lesen.

Nahezu alle linken Gruppen der alten Bundesrepublik waren damals der Auffassung, dass Routhier ein Opfer von Polizeigewalt war. Sie sahen sich durch seinen Tod in ihrer Ansicht bestätigt, dass die Polizei im Interesse des Kapitals gegen Arbeiter*innen vorgeht und sogar deren Tod in Kauf nimmt.

Der Hintergrund: Vor dem Duisburger Arbeitsgericht hatte ein wegen eines Streikaufrufs entlassener Arbeiter von Mannesmann auf Wiedereinstellung geklagt. Er war Mitglied der KPD/ML, und die maoistische Partei hatte Mitglieder und Sympathisant*innen zur solidarischen Prozessbegleitung aufgerufen. Unter den Prozessbesucher*innen waren auch der 46-jährige Günter Routhier und sein Sohn.

Nach der Urteilsverkündung in dem Verfahren am 5. Juni 1974, in der die Entlassung des Arbeiters bestätigt wurde, kam es im Publikum zu Protesten. Prozessbeobachter*innen sangen die Internationale. Daraufhin ließ der Richter den Saal sofort von der Polizei räumen. Beim Polizeieinsatz wurden mehrere Menschen verletzt. Auch Routhier wurde geschlagen und stürzte auf der Treppe vor dem Saal.

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In einem Bericht der KPD/ML-Zeitung »Roter Morgen« hieß es (mit falscher Angabe zu Routhiers Alter): »Ein 50-jähriger Mann, der mit seinem Sohn zum Prozess gekommen war, wird ebenfalls von den Polizeischlägern gepackt, in die Stuhlreihen gestürzt, verprügelt, aus dem Saal gezerrt und die Treppe hinuntergestoßen, wobei er mehrmals mit dem Kopf auf den Boden schlägt und schließlich ohnmächtig liegen bleibt.« Offiziellen Berichten zufolge wurde Routhier im Polizeigriff die Treppe »hinuntergeführt«, wobei »sein Kopf gegen die Wand und den Boden« gestoßen sei.

Sechs Prozessbesucher*innen wurden festgenommen und auf die Polizeiwache gebracht. Routhier wurde nach Berichten von Augenzeug*innen auf den Boden geworfen, wo er wegen der Verletzungen durch die Polizei schrie und stöhnte. Sein Sohn versuchte demnach, den Polizisten mehrmals zu erklären, dass sein Vater Bluter sei und dringend ärztliche Hilfe benötige. Routhier wurde in die Uniklinik Essen eingeliefert, wo er zwei Wochen lang, künstlich beatmet, um sein Leben rang. Am 18. Juni 1974 wurde er für tot erklärt.

Sein Fall sorgte im ganzen Ruhrgebiet für Proteste. Doch alle Kundgebungen in Gedenken an Routhier wurden verboten. Auch die Trauerkundgebung am Tag der Beerdigung in Duisburg wurde untersagt und von der Polizei angegriffen. »Während der ganzen Trauerfeier kreisten zwei Polizeihubschrauber in geringer Höhe über der Grabstätte. Zwischen 17 und 18 Uhr fuhren zwei Panzerspähwagen am Haupteingang des Friedhofes auf«, heißt es im Bericht des »Roten Morgen«. Die Polizei habe gezielt Jagd auf Schwarzgekleidete gemacht, womit in diesem Fall Menschen in dunkler Trauerbegleitung gemeint waren. Mehr als 100 Personen wurden festgenommen.

Auch gegen Zeitungsverkäufer*innen und Flugblattverteiler*innen, die sich mit dem Fall befassten, gingen Polizei und Justiz vor. Die Behauptung, dass Routhier von der Polizei ermordet worden sei, nahm die Justiz zum Anlass für zahlreiche Anklagen wegen Beleidigung. Die Prozesse zogen sich noch bis in die 80er Jahre hin. Mehrere Menschen wurden zu hohen Geld- und manche sogar zu Haftstrafen verurteilt.

Routhiers Tod sorgte auch außerhalb der kommunistischen Szene für Empörung. Der Dichter Erich Fried schrieb ein kurzes Gedicht zum Tod des Mannes, und der Liedermacher Walter Mossmann verfasste die »Ballade vom zufälligen Tod«.

Bei der Obduktion des Leichnams von Routhier stellte ein Gutachter fest, die Gehirnblutung, an der der 46-Jährige gestorben war, sei nicht auf Gewaltanwendung zurückzuführen. Dagegen kam der Direktor des Gerichtsmedizinischen Instituts Berlin, Walter Krauland, in einem weiteren Gutachten zu dem Ergebnis, es gebe »keinen Zweifel an der gewaltsamen Ursache des Todes von Günter Routhier«, als Tatzeit komme »aufgrund der erhobenen Befunde der 5.6.74 infrage«.

Wäre Günter Routhier in der DDR unter ähnlichen Umständen gestorben, dann wäre an seinem 50. Todestag vermutlich offiziell an ihn erinnert worden – und an die vielen mit Prozessen überzogenen Menschen, die damals protestierten. Denn dann wären sie alle »Opfer der SED-Diktatur«. Gedenkveranstaltungen für Betroffene von Polizeigewalt in der Bundesrepublik gibt es bislang nicht.

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