Europawahl: Zur Strafe gibt es eine Sperrklausel

Christoph Ruf über den Erfolg der »Kleinen« bei der vergangenen Europawahl

Schon interessant, worum die Debatten nach der Europawahl kreisen. Diskutiert wird über die offenbar sensationelle Erkenntnis, dass die AfD bei Jungwählerinnen und Jungwählern noch besser abgeschnitten hat als beim Bevölkerungsdurchschnitt. Dabei kann das eigentlich nur Menschen wundern, die so wenig Kontakt zu Menschen aus diesem Jahrtausend haben, dass sie Greta Thunberg und Luise Neubauer irgendwie für repräsentativ halten.

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Ich habe mir einige Artikel durchgelesen, die seither dazu erschienen sind. Fast alle sind im Empörungsduktus geschrieben; ein besonders langer Text gab sich nicht mal die Mühe zu kaschieren, dass man die interviewten Jugendlichen im Grunde für bescheuert hält. Man möchte das nicht ausschließen, aber es ist halt der gleiche selbstgerechte Furor, den am Wahlabend auch den Vorsitzenden der Splitterpartei SPD ergriffen hat. 590 000 Stimmen hat seine Partei an die AfD verloren, drei Mal mehr Arbeiterinnen und Arbeiter wählen momentan die Rechten als die Sozialdemokraten. Ob man die zurückbekommt, wenn man sie pauschal und kollektiv als »Nazis« bezeichnet?

Wenn die unsägliche AfD und die, die sie gewählt haben, in Gänze »Nazi« sind, was ist dann der »Dritte Weg«, was Tommy Frenck, was Joseph Goebbels? Differenzierter war da schon Sahra Wagenknecht, die der ach so empörten Alice Weidel entgegnete, dass es in ihrer Partei durchaus Nazis gebe, Maximilian Krah oder Björn Höcke beispielsweise. Und ganz sicher hätte sie auch Weidel selbst fragen können, warum für sie der 8. Mai 1945 kein Tag der Freude sei. Interessant übrigens, dass die Reaktionen auf den Wahlerfolg des BSW im linken Medienspektrum häufig offen-beleidigt ausfielen.

Christoph Ruf

Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet in seiner wöchentlichen nd-Kolumne »Platzverhältnisse« politische und sportliche Begebenheiten.

Ich fand an der Europawahl etwas ganz anderes bemerkenswert. Nämlich, dass 29 Prozent der 16- bis 24-Jährigen »kleine« Parteien gewählt haben, »Tierschutzpartei«, »ÖDP«. »Mera«, »Humanisten«, vor allem aber »Volt«. Und warum auch nicht (okay, bei Volt würden mir da schon ein paar Gründe einfallen)? Viele Klein- und Kleinstparteien haben jedenfalls etwas, das den größeren abgeht, vielleicht auch abgehen muss. Nämlich ein klares Profil: Wer ÖDP wählt, weiß, dass er Engagement für Umweltschutz bekommt. Wer die Humanisten wählt, weiß, dass Relgion und Staat getrennt werden sollen, Tierschutz- und Christliche Parteien tragen ihre Alleinstellungsmerkmale im Namen, usw.

Insgesamt haben sich über 14 Prozent der Menschen für eine Partei entschieden, die nicht im Bundestag vertreten ist. Ob es da die richtige Antwort ist, bei der nächsten Europawahl in fünf Jahren eine Sperrklausel von wohl zwei Prozent einzuführen? Die EU will das so, Deutschland hat brav ratifiziert. Die Partei, Tierschutzpartei, ÖDP, Familiepartei und Partei des Fortschritts, die gerade jeweils einen Sitz errungen haben, wären dann jedenfalls draußen, mitsamt ihre Wählerinnen und Wähler. So mancher Jungwähler dürfte damit auch dann zum ersten Mal merken, was Ältere schon länger wissen: Wenn es um die eigenen Pfründe geht, sind sich die traditionellen Parteien oft erstaunlich einig: 568 Abgeordnete haben im Juni jedenfalls für die Sperrklausel gestimmt, nur 111 dagegen.

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