- Politik
- Verfassungsschutzbericht
Unsensibel für Islamfeindlichkeit
Faeser und Haldenwang stellen Verfassungsschutzbericht für 2023 vor
»Die Sicherheitslage bleibt angespannt«, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Dienstag anlässlich der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts für 2023 in Berlin. Wie jedes Jahr ist das über 400 Seiten umfassende Werk ein Rundumschlag gegen »Bedrohungen durch Islamismus, Rechtsextremismus und Linksextremismus«. Im Fokus stehen außerdem Cyberangriffe, Sabotage, Desinformation und Spionage aus Russland, China und dem Iran. Diese »hybride Bedrohungen« haben laut Faeser »eine neue Dimension erreicht«. Ähnlich beschreibt es der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang: »Wir sehen uns aktuell einem sehr hohen Niveau von Bedrohungen gegenüber.« Sorgen soll sich deshalb aber niemand: »Wir haben alle Schutzmaßnahmen massiv hochgefahren«, erklärte die Innenministerin.
Für das Jahr 2023 zählt der Inlandsgeheimdienst insgesamt 39 433 Straftaten mit »extremistischem Hintergrund«, das ist eine Zunahme von über zehn Prozent. Auch das gewaltbereite Personenpotenzial ist demnach in allen Phänomenbereichen gestiegen. Der Bericht nennt dazu 2 761 Gewalttaten, jedoch lag diese Zahl im Vorjahr geringfügig höher.
Mehr Rechtsextremisten in Parteien
Im Bereich Rechtsextremismus sind laut BfV derzeit rund 40 600 Personen aktiv (2022: 38 800). Eine deutliche Zunahme belegt der Bericht insbesondere in Parteien, dort ist das »Rechtsextremismuspotenzial« von 11 800 im Jahr 2021 auf 16 300 im Jahr 2023 angestiegen. Aufgezählt werden Die Heimat, Die Rechte, Der III. Weg sowie die AfD, außerdem Freie Sachsen und die Neue Stärke Partei als »Sonstige«. Auch die Zahl rechtsextremistischer Versammlungen sei im Vorjahr gestiegen, jene von Musikveranstaltungen sogar auf einen Höchststand, sagte Haldenwang.
Die Vernetzung unter Neuen Rechten nimmt dem Jahresbericht zufolge ebenfalls weiter zu, genannt werden das Magazin »Compact« sowie der Verein Ein Prozent e.V. und das Institut für Staatspolitik. Beide behandelt das BfV nunmehr als »gesichert rechtsextremistische Bestrebungen«. Außerdem sei das Personenpotenzial der »Reichsbürger« und »Selbstverwalter« erneut um 2000 Personen auf 25 000 angewachsen, davon rund zehn Prozent Gewaltorientierte. Wegen der »Waffenaffinität vieler Szeneangehöriger« sieht das BfV für den Personenkreis ein erhöhtes Gefährdungspotenzial. Mindestens 360 Personen seien deshalb im Vorjahr waffenrechtliche Erlaubnisse entzogen worden, einige hätten diese auch freiwillig zurückgegeben.
Verbindungen dieser Klientel sieht das BfV zum Phänomenbereich »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates«, der vor zwei Jahren ein eigenes Kapitel im BfV-Bericht erhielt. Zu diesem Spektrum, das oftmals nur »in losen Personenzusammenschlüssen« existiere, werden rund 1600 Personen gezählt. Nach der Corona-Pandemie seien nun staatliche Klimaschutzmaßnahmen oder die Unterstützung der Ukraine ein »Mobilisierungsthema«. Eine besondere Resonanz erzielten die Akteure jedoch nicht, das gelte auch für den Versuch, sich als »neue Friedensbewegung« zu inszenieren.
PKK »bedeutsamste Organisation«
Auch das »linksextremistische Personenpotenzial« ist dem BfV zufolge »nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften« um 500 auf insgesamt 37 000 Personen angestiegen. Jeder Vierte davon sei »als gewaltorientiert einzuschätzen«, entsprechende Straftaten seien um 11,5 Prozent auf rund 7800 angewachsen. Insbesondere Gewalt gegen Polizeibeamte nehme deutlich zu, genannt wird auch »versuchter Mord«. Ein solcher Vorfall sei der Wurf zweier Brandsätze bei der Demonstration zum »Tag X« am 3. Juni 2023 in Leipzig gewesen, erklärt der Bericht an anderer Stelle ausführlich.
Der Inlandsgeheimdienst warnt außerdem vor einer »Beeinflussung der Klimaprotestbewegung durch Linksextremisten«, die auf eine »Radikalisierung der Aktionsformen hin zur Sabotage von Infrastruktur« ziele. Genannt wird etwa das Bündnis Ende Gelände, das beim BfV nun als »linksextremistischer Verdachtsfall« gilt. Jugendorganisationen, etwa von Parteien, sollten ihre Zusammenarbeit mit dem Bündnis deshalb beenden, sagte Faeser dazu am Dienstag.
Als weitere große Bedrohung sieht der Inlandsgeheimdienst »auslandsbezogenen Extremismus«, der im Vergleich zum Vorjahr auf 30 650 Personen leicht angestiegen sei. Als »zahlenmäßig bedeutsamste Organisation« gilt die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mit 15 000 Anhängern. Im Bereich »Islamismus/islamistischer Terrorismus« sei das Personenpotenzial mit 27 200 Personen annähernd gleich geblieben, beobachtet das BfV. »Europa und damit auch Deutschland« stünden aber »weiterhin und verstärkt« im Fokus terroristisch-jihadistischer Organisationen. Als besonders gefährlich gilt der IS-Ableger ISPK.
Sonderkapitel zum Nahost-Konflikt
Der BfV-Bericht enthält erstmals ein »phänomenübergreifendes Sonderkapitel« zu den Auswirkungen der Angriffe der Hamas vom 7. Oktober 2023 sowie dem anschließend von Israel begonnenen Krieg in Gaza. Die Straftaten gegen jüdische Menschen seien »explodiert«, erklärte Faeser dazu und sprach von einem »widerwärtigen Judenhass«. Haldenwang bezeichnete Antisemitismus als »Brückennarrativ für teilweise sehr unterschiedliche Extremismusfelder«. Die »linksextremistische Szene« ist nach seiner Einschätzung zum Nahost-Konflikt gespalten, »überwiegend aber propalästinensisch«.
Eine nach dem 7. Oktober 2023 gestiegene Bedrohungslage für Muslime sieht der BfV-Präsident nicht, verglichen mit der Situation für Juden sei diese »zu vernachlässigen«. Das Bundeskriminalamt hatte dies bei der Vorstellung seines Jahresberichts für politisch motivierte Kriminalität im April anders dargestellt: Demnach stiegen islamfeindliche Straftaten nach dem 7. Oktober um 140 Prozent auf 1464 Fälle.
Auch der Mediendienst Integration verwies am Montag auf eine deutliche Zunahme von Angriffen auf Muslime, die demnach »unter Generalverdacht« stünden. Darauf angesprochen, erklärte Haldenwang, es möge derartige Vorfälle gegeben haben. »Ob die im Zusammenhang mit dem Konflikt stehen, vermag ich nicht zu sagen«, so Haldenwang.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.