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- Groninger Straße 3
Moderner Mietenwahnsinn
Bewohner der Groninger Straße 3 und 5 in Berlin-Wedding fürchten um ihre Bleibe
Raiko sitzt mit seinen Nachbarn aus der Groninger Straße 3 und 5 um einen Massivholztisch im Hinterzimmer eines Spätkaufs in Berlin-Wedding. Der Treffpunkt im Nachbarhaus sei für die Hausgemeinschaft in den vergangenen Monaten zu einem zweiten Wohnzimmer geworden, sagt der 35-jährige Mieter. Über seinem Kopf hängt ein Ensemble von Fußball-Fanschals, das so vielfältig ist wie die Bewohnerschaft der Groninger Straße 3 und 5. Was alle in dem Mietshaus verbinde, sei ein überschaubares Einkommen, sagt Raiko, der im Kunst- und Kulturbereich arbeitet. Und die Sorge, dass es bald nicht mehr für die Miete reichen könnte.
Drohkulisse für die Mieter
Im Januar hat die Spreewater GmbH mit Sitz in Berlin-Charlottenburg die 30 Wohn- und Gewerbeeinheiten in der Nähe des Leopoldplatzes gekauft und umgehend Modernisierungsmaßnahmen angekündigt. Rechtskräftig wurde der Kauf erst im Mai, nachdem der Bezirk Mitte auf die Ausübung seines Vorkaufsrechts verzichtet hatte. Raiko und seine Nachbarn berichten, dass das Projektportfolio des Hauses zu diesem Zeitpunkt längst auf der Webseite von Spreewater zu sehen gewesen sei. Im Februar hätten sie es dort entdeckt, sagt er. Es gewährt einen Einblick in das, was auf die Bewohner der beiden Altbauten zukommen könnte.
Der »aufstrebende Wedding« biete »zahlreiche Opportunitäten«, heißt es darin. Man wolle die Gründerzeit-Immobilie »energetisch modernisieren und mittels Dachaufstockung zusätzlichen Wohnraum realisieren«. Und: Bei Spreewater sei man davon überzeugt, dass die Mieten in beliebten Wohngegenden wie dem Leopoldkiez weiter steigen werden.
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Auf nd-Anfrage äußerte sich der Investor nicht dazu, in welchem Umfang Mieterhöhungen für die Bewohner der Groninger Straße zu erwarten sind. Man befinde sich in der Frühphase der Planung zur Gebäudemodernisierung. Ob Neuvermietungen der Wohneinheiten geplant sind, ließ das Unternehmen ebenfalls offen. Auf seiner Webseite vermerkt es indessen, dass es die Wohn- und Gewerbeflächen »künftig zur Vermietung anbietet«.
Da alle Wohn- und Gewerbeeinheiten bereits vermietet sind, müssen diese eigentlich nicht mehr angeboten werden. Es sei denn, die Bewohner der Groninger Straße 3 und 5 können sich die Mieten nach vollbrachter Modernisierung nicht mehr leisten. Genau das befürchten sie. »Wir haben Angst«, sagt Jacky, die seit zwei Jahren in der Groninger Straße lebt. Am Mittwoch erhielt sie ein Schreiben von Spreewater mit einer Kündigung des von ihr genutzten Lagerraums. Das sei nur der Anfang, befürchtet sie.
Der neue Eigentümer habe ihnen zwar gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen müssten. »Alles bleibt besser«, steht in einem Schreiben an die Bewohner des Hauses. Doch Jacky traut der Aussage des Investors nicht. Im Februar seien sie und ihre Nachbarn schon einmal reingelegt worden. Ein Architekt sei zu ihnen gekommen, um das Altbauduett zu vermessen – wegen einer geplanten Fernwärmeleitung, habe der Mann damals vorgegeben. Mittlerweile sei klar, dass der vormalige Vermieter, die Bersulin GbR, ihn geschickt habe, um das Modernisierungspotenzial des Hauses zu erfassen, schlussfolgert Jacky, die derzeit arbeitsunfähig ist und eigentlich als Stewardess auf Jachten arbeitet.
Vorkaufsrecht bleibt ungenutzt
Das im Jahr 1906 gebaute Doppelhaus liegt in einem Milieuschutzgebiet. Das Bezirksamt muss hier grünes Licht für Modernisierungsmaßnahmen geben, zudem auch, wenn ein Haus den Besitzer wechselt. Unter bestimmten Umständen kann der Bezirk sogar anstelle des privaten Käufers in den Kaufvertrag eintreten. Das gesetzliche Vorkaufsrecht regelt diese Möglichkeit. Vor allem die Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln haben sie bis 2021 regelmäßig genutzt, um Mieter vor Verdrängung zu schützen.
Doch die Berliner Bezirke sehen es seit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von November 2021 so, dass ihnen praktisch die Hände gebunden seien. Das Gericht stellte damals fest, dass das Vorkaufsrecht nicht zum Schutz von Mietern vor Verdrängung eingesetzt werden dürfe, sondern nur aus baurechtlichen Erwägungen, wenn eine Immobilie kaputt ist oder überwiegend leersteht. Um den Vorkauf zu rechtfertigen, müssen die Bezirksämter seither eine akribische Prüfung auf Mängel und Missstände am Objekt durchführen.
Prüft der Bezirk Mitte halbherzig?
Ein Sprecher des Bezirksamts Mitte erklärte »nd« auf Anfrage, dass im Fall der Groninger Straße 3 und 5 keine Hinweise auf Mängel vorgelegen hätten. Jacky hält dem entgegen, die Schäden im Treppenhaus und in den Wohnungen seien nicht inspiziert worden: »Die haben hier einmal oberflächlich auf die Fassade gelinst und dann entschieden: Kann verkauft werden.« Der Bezirk Mitte habe seinen Prüfauftrag nicht ernstgenommen, schlussfolgert sie. Kritik an der Rolle des Bezirks äußerte im vergangenen Jahr auch die Hausgemeinschaft der Seestraße 110, deren Haus ebenfalls an einen privaten Investor ging.
Für die Bewohner ist das Ergebnis ernüchternd: »Wir müssen uns neben der Erwerbsarbeit jetzt auch noch darum kümmern, dass wir hier weiterhin zu erschwinglichen Preisen wohnen können«, sagt Raiko. Er weiß, dass das nicht einfach wird: »Man fühlt sich sehr klein gegen das Kapital und seine Anwälte. Wir haben unseren Alltag, unsere Lasten. Ich finde es anmaßend, dass wir jetzt auch noch einen Abwehrkampf führen müssen.«
Begrenzter Spielraum für Regulierung
Das Bezirksamt verweist auf die Genehmigungsvorbehalte bei Modernisierungen, die es in Milieuschutzgebieten gebe und die Wohnbevölkerung vor Verdrängung schützen: »Jede Baumaßnahme, die über den zeitgemäßen Ausstattungszustand einer durchschnittlichen Wohnung hinausgeht […], wird grundsätzlich versagt.«
In der Praxis heißt das: Die Bezirksämter haben den Auftrag, Luxussanierungen wie bodentiefe Fenster, Fußbodenheizungen oder Marmor im Treppenhaus zu verhindern. Der Einbau eines Aufzugs, einer Zentralheizung oder von Fassadendämmung liegt hingegen nicht im Ermessen der Behörden. Die Kosten für solche Neuerungen können die Eigentümer scheibchenweise auf die Mieter umlegen.
Raiko sagt, er habe nicht per se etwas gegen die Modernisierung von alten Häusern. So wie es in Berlin laufe, werde damit jedoch das Recht auf Wohnen verletzt. Den Bezirken komme eine stärkere soziale Verantwortung zu, sagt Raiko. »Wenn das private Kapital übernimmt, dann ändern sich der Kiez und seine Leute. Das kann doch auch nicht im Sinne der Stadt sein.«
»Wenn das private Kapital übernimmt, dann ändern sich der Kiez und seine Leute. Das kann doch auch nicht im Sinne der Stadt sein.«
Raiko Mieter
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