Verdrängung an der U8

Sicher und sauber will die »Reinigungsstreife« die »gefährlichste« Linie machen. Soziale Arbeit und Aktivisten berichten über die Folgen

  • Jule Meier
  • Lesedauer: 7 Min.
Polizei und BVG haben ihre Zusammenarbeit »deutlich intensiviert«.
Polizei und BVG haben ihre Zusammenarbeit »deutlich intensiviert«.

Die Berliner U-Bahnlinie 8 hat einen neuen Anstrich bekommen. Wer ab und an zwischen Jannowitzbrücke und Hermannstraße mit der U-Bahn fährt, dem wird in den letzten Monaten die Veränderung aufgefallen sein: Kippenstummel und benutzte Spritzen liegen seltener auf Böden und Treppen der Bahnhöfe, für den Drogenkonsum bekannte Sitzbänke wie an der Leine- oder Boddinstraße stehen häufiger leer.

»Früher konnte man hier nicht mal sitzen, überall war Kacke«, sagt Yadigar Iğde, Blumenverkäuferin am Kottbusser Tor über einen Bahnhof, in dem sie seit Jahren arbeitet. Aufgefallen ist Iğde wie ihrer Nachbarin, die einen Backshop betreibt, dass mehr Sicherheitskräfte unterwegs sind. Die beiden Frauen erklären »nd«, dass sie sich an ihrem Arbeitsplatz nicht unsicher fühlen. »Die Junkies machen ja nichts«, sagt Iğde. Sie finden es dennoch gut, dass Polizei und Sicherheitskräfte gewisse Gruppen am Kotti entfernen.

Pilotprojekt »Reinigungsstreife«

Im Namen der Sauberkeit und Sicherheit ist seit März zunächst in neun, seit Juni in allen Bahnhöfen der Linie U8 eine »Reinigungsstreife« unterwegs. Laut Angaben der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) ist die Reinigungsleistung im Zeitraum März bis Mai um zusätzliche 85 Prozent und die Sicherheitsleistung um zusätzliche 70 Prozent gesteigert worden. Seit Juni läuft das Pilotprojekt in seiner zweiten Phase – bis November. Dafür wurde die Reinigungsleistung noch einmal um 50 Prozent und die Sicherheitsleistung um mehr 100 Prozent im Vergleich zum Pilotprojekt gesteigert.

»Deutlich intensiviert« habe sich die Zusammenarbeit mit der Polizei, seit das Projekt in der zweiten Phase läuft, so die BVG. »Besonders stark genutzte Bahnhöfe« wie Osloer Straße werden rund um die Uhr durch Sicherheitspersonal besetzt. Der Senat und die BVG sind sich einig, das neue Bündnis aus Polizei, Verwaltung und BVG toll sei. Wenngleich es die BVG einiges kostet: 700 000 Euro für die ersten drei Monate. Unklar ist, wie viel die zweite Laufzeit kostet – und woher das Geld kommen soll.

Den meisten Berliner*innen dürfte klar sein, dass die U8 kein besonders sauberer Ort ist. Nicht so eindeutig ist die Frage nach der Sicherheit zu beantworten. Selbst der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) sagte anlässlich der Verlängerung des Projekts, dass der ÖPNV statistisch gesehen ein sicherer Raum sei.

Die nd-Anfrage, inwiefern es speziell an oder in der U8 mehr Straftaten gebe, ließ die Polizei unbeantwortet. Wegner und die Polizei sprachen aber vom »Sicherheitsgefühl«. Die BVG hat während des Pilotprojekts 10 000 Menschen befragt, was sie von der Sache halten – die eine Hälfte vor Ort, die andere Hälfte online. 81 Prozent bewerteten die »Reinigungsstreife« demnach positiv, 80 Prozent fühlen sich dadurch sicherer und 96 Prozent sprachen sich für eine Ausweitung aus. 93 Prozent glauben nicht, dass es wohnungslosen Menschen hilft, wenn sie, wie im Rahmen des Pilotprojektes geschehen, aus den Zügen geworfen werden.

Wer schützt wen?

Zu ganz anderen Ergebnissen kam die Umfrage der abolotionistischen Gruppe »Ihr seid keine Sicherheit« (ISKS), die sich für die Abschaffung der Polizei einsetzt. ISKS befragte 1234 Personen, nach eigenen Angaben alle anonym. Aktivist*innen verteilten über drei Monate hinweg Karten auf der Strecke. Ein QR-Code auf den Karten führte zu der Umfrage, die auch Raum fürs Kommentieren ließ. Übersetzt waren die Fragen ins Englische, Türkische, Arabische, Rumänische und Polnische. Die Auswertung ergab: 82 Prozent der Befragten empfanden das Projekt als nicht sinnvoll, 11 Prozent fühlten sich durch das Sicherheitspersonal sicherer, 50 Prozent dagegen zeigten sich von diesem eingeschüchtert oder gar verängstigt.

»Uns ist wichtig zu betonen, dass sich unsere Aktion nicht gegen das Sicherheitspersonal oder Reinigungskräfte richtet«, erklärt eine Sprecherin der Initiative. Stattdessen erkennt ISKS an, dass es besonders diese Berufe sind, die unter kapitalistischer Ausbeutung leiden. »Unser großes Ziel war es, nicht nur eine Gegenstimme, sondern auch ein Bewusstsein dafür zu schaffen, welchen Preis dieses Projekt hat«, sagt die Sprecherin. Auch ISKS spricht sich für mehr Sauberkeit aus, kritisiert jedoch, dass das Projekt Unsicherheit schaffe – und zwar für die Verwundbarsten der Gesellschaft.

Im Gespräch mit »nd« erklärt die ISKS-Sprecherin das Konzept der »organisierten Vernachlässigung« der US-amerikanischen Geografin Ruth Wilson Gilmore. Laut ISKS geht dieses davon aus, dass Sparpolitik im Kapitalismus besonders zu Sparmaßnahmen bei als nicht verwertbar geltenden Gruppen wie Suchterkrankten, Geflüchteten oder Obdachlosen führt. Der Staat spart in Krisen an der sozialen Grundversorgung für diese Gruppen und investiert stattdessen in die innere Sicherheit wie Polizei, um diese mit neuen Befugnissen zur Lösung sozialer Probleme einzusetzen. Organisierte Vernachlässigung führt daher in der Umsetzung zu organisierter Gewalt.

ISKS sieht das Projekt »Reinigungsstreife« in diesem Sinne als Verdrängungsmaßnahme von oben. Statt die mindestens 700 000 Euro, die die zweite Runde des Projekts kostet, in repressive Maßnahmen zu investieren, wäre das Geld für den Ausbau der sozialen Infrastruktur besser angelegt: für die Schaffung bezahlbaren Wohnraums und mehr öffentlicher Räume sowie den Ausbau von Drogenkonsumräumen, Notübernachtungsplätzen oder Hilfsangeboten. »Auf der Grundlage von einem Tagessatz sozialer Einrichtungen für die Grundversorgung hätte man knapp 80 Menschen für ein Jahr unterbringen können«, sagt die ISKS-Sprecherin.

Die Haushaltspolitik des Berliner Senats spricht allerdings eine andere Sprache. Die pauschalen Minderausgaben zwingen, 1,75 Milliarden einzusparen. Das trifft auch die BVG. Die im Haushalt veranschlagten 766 Millionen Euro sollen sich um 25,2 Millionen verringern. Der ohnehin dünne Sozialhaushalt wird auch gekürzt. Darunter leidet das Angebot sozialer Träger.

Behinderung sozialer Arbeit

Die BVG betont, dass die »Reinigungsstreife« ein Projekt für die Menschen sei. Man kooperiere dafür mit Sozialexpert*innen wie der Berliner Kältehilfe. Ein Sprecher der Kältehilfe betont gegenüber »nd«, dass dies nicht der Fall sei. Die »Reinigungsstreife« verteile lediglich ihre Shelter Map, einer Karte, die Möglichkeiten für einen Unterschlupf ausweist. »Im Gegensatz zum Kältewegweiser hat diese nicht den Anspruch, alle niedrigschwelligen Angebote für Obdachlose abzubilden«, sagt der Sprecher. So seien weder Familiennotunterkünfte noch suchtspezifische Angebote aufgenommen worden. Doch nicht nur die verteilte Shelter Map ist ein Problem. Die »Reinigungsstreife« schafft noch ein ganz neues: Bereits vorhandene soziale Arbeit wird behindert.

»Seit die ›Reinigungsstreife‹ unterwegs ist, haben wir den Kontakt zu circa 60 Prozent der Adressat*innen verloren«, sagt Juri Schaffranek vom Verein Gangway, der Straßensozialarbeit macht und die Klient*innen in ihrer Lebenswelt aufsucht. Gangway beobachtet bei einem Teil seiner Adressat*innen eine signifikante Verschlechterung des gesundheitlichen und psychosozialen Zustands seit Beginn des BVG-Projekts. Anwohner*innen haben Schaffranek zudem berichtet, dass sie mehr Obdachlose und Drogenkonsument*innen in den Hauseingängen und Hausfluren sehen. »De Facto ist es ein Projekt zur Verdrängung, da das primäre Ziel nicht das ›Putzen und Fegen‹ der Bahnhöfe ist, sondern das Verweisen von Leuten aus den Bahnhöfen der Linie 8, die nicht ausschließlich die Beförderungsleistungen der BVG nutzen.«

Zur Frage der Sicherheit sagt der seit 1988 tätige Sozialarbeiter, dass die zum Teil offen dealende Drogenszene von Fahrgästen als Bedrohung empfunden werde. Dabei werde ein Großteil der erfassten Straftaten innerhalb der Szene verübt – und dann gebe es da noch Verstöße wie das Schwarzfahren. Außerdem habe Gangway regelmäßig ein »robustes« Vorgehen der Sicherheitskräfte beobachtet und von Schmerzgriffen gehört.

Astrid Leicht, Geschäftsführerin der Drogenhilfe Fixpunkt, betont gegenüber »nd«, dass selbst ein »sozial kompetentes Herauskomplimentieren oder ein gewaltfreies Rauswerfen von Menschen mit Suchtproblemen aus Bahnhöfen im Auftrag der BVG nicht zielführend und kurzsichtig« sei. Leichts Meinung nach decken sich die Ergebnisse der ISKS-Umfrage mit den Erfahrungen von Fixpunkt: »Es handelt sich hier aus unserer Sicht um ein Projekt, das von der BVG nicht ehrlich kommuniziert wird.« Denn es gehe dabei nicht nur um das Säubern der Bahnsteige, sondern auch um das »Säubern« von Menschen. »Und zwar auch dann, wenn objektiv keine Gefahr für Dritte oder die Menschen selbst besteht.« Auch Leicht berichtet über den Verdrängungseffekt, dass Konsument*innen auf die anliegenden Grünanlagen und Häuser ausweichen.

In Verbindung mit der »massiven Polizeipräsenz« entlang der U8 erreiche Fixpunkt seit Februar mit dem Drogenkonsum- und Kontaktmobil kaum noch Menschen. Gleichzeitig laufe der Drogenhandel auf den Bahnsteigen ungehindert weiter. Auch zahlreiche Rückmeldungen an den Bezirk und Gespräche mit der Polizei hätten nicht geholfen. »Wir reagieren jetzt darauf, indem wir ab Juli, hoffentlich nur vorübergehend, den Vor-Ort-Einsatz am U-Bahnhof Leinestraße einstellen«, sagt Leicht.

»De facto ist es ein Projekt zur Verdrängung.«

Juri Schaffranek Sozialarbeiter
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