Islamismus in Dagestan: »Das Terror-Problem ist nicht gelöst«

Der Islamwissenschaftler Achmet Jarlikapow über Islamismus in der Kaukasusrepublik Dagestan

  • Interview: Ruslan Suleymanov und Roland Bathon
  • Lesedauer: 4 Min.
Razzia gegen mutmaßliche Terroristen in Dagestan vor wenigen Wochen. Der Nordkaukasus bleibt eine unruhige Region.
Razzia gegen mutmaßliche Terroristen in Dagestan vor wenigen Wochen. Der Nordkaukasus bleibt eine unruhige Region.

Herr Jarlikapow, die islamistischen Anschläge auf Kirchen, Synagogen und eine Polizeistation in Dagestan wirft ein bedenkliches Bild auf die innere Sicherheitslage im russischen Kaukasus. Dabei wurde bis vor Kurzem angenommen, dass der terroristische Untergrund in der Region längst der Vergangenheit angehört. Bedeuten die Anschläge, dass es den russischen Sicherheitsbehörden nicht gelungen ist, die Zellen zu zerschlagen? Oder handelt es sich um eine neue Generation des Terrorismus?

Es bedeutet, dass die vollständige Zerstörung der Militanten im Nordkaukasus nicht stattgefunden hat. Die ganze Zeit blieben sogenannte Schläferzellen übrig. Von Zeit zu Zeit machten sie sich auch bemerkbar, etwa durch Angriffe auf Polizisten. Wir haben einfach nicht darauf geachtet. Aber die dschihadistischen Netzwerke sind nie verschwunden.

Die Angreifer in Dagestan trugen keine Erkennungszeichen wie Symbole oder Armbinden. Zu welcher Gruppe gehören sie?

Sie könnten verschiedenen Terrorgruppen angehören. Der Version, es handele sich um den »Islamischen Staat« widerspricht die Tatsache, dass dieser bisher keine Verantwortung für den Terrorakt übernommen hat. Er bleibt totenstill. Daraus können wir schließen, dass diese Militanten dem IS nur ideologisch nahestehen, aber keine Mitglieder sind. Es könnte sich um Vertreter der sogenannten wahabitischen Netzwerke handeln, die bereits seit den 90er Jahren in der Region operieren. Sie zeichnen sich durch eine äußerst feindselige Haltung gegenüber Juden und Christen sowie einigen Muslimen aus. Genau das haben wir in Machatschkala und Derbent gesehen.

Interview

Achmet Jarlikapow (54) ist ein russischer Islamwissenschaftler und Kaukasus-Experte. Seit 2014 ist er leitender Forscher am Zentrum für Eurasische Studien am Moskauer Staat­lichen Institut für Inter­nationale Beziehungen (MGIMO), der wichtigsten politischen Kader­schmiede in Russland.

Also eine lokale Formation?

Ja, der Begriff »Wahabismus« wurde im Nordkaukasus schon immer recht weit ausgelegt. Hier sehen wir eine lokale Zelle.

Unter den Angreifern befanden sich die Söhne des Chefs einer der Regionen Dagestans und Mitglieds der Putin-Partei Einiges Russland, Magomed Omarow. Was bedeutet das? Gibt es einen neuen Trend unter wohlhabenden Jugendlichen in der Republik?

Nein, das ist überhaupt kein neuer Trend. Wir haben das auch im Zusammenhang mit dem Rekrutierungsnetzwerk für den IS vor zehn Jahren gesehen. Bei den Rekrutierten handelte es sich oft um recht erfolgreiche Menschen, die mit sozialer Ungerechtigkeit selbst nicht konfrontiert waren, gegen die sie sich richteten. In den Jahren 2015 und 2016 waren etwa 80 Prozent der Personen, die Dagestan verließen, um für den IS zu kämpfen, Kinder von Beamten, Geschäftsleuten und Polizisten. Dieser Trend existierte also damals schon. Wenn wir uns die Zusammensetzung der aktuellen Attentäter anschauen, stellen wir das Gleiche fest: Es sind Vertreter einer starken Mittelschicht. Im vergangenen Herbst beobachteten wir eine zunehmende antisemitische Stimmung in Dagestan, als am Flughafen Machatschkala Dutzende Männer versuchten, ein aus Tel Aviv angekommenes Flugzeug zu stürmen.

Gibt es starke antiisraelische Gefühle in Dagestan?

Vor dem Hintergrund der schrecklichen Militäroperation im Gazastreifen ist eine antiisraelische Stimmung nicht nur in Dagestan, sondern in der gesamten islamischen Welt und sogar über ihre Grenzen hinaus weit verbreitet. Im Herbst am Flughafen von Machatschkala erlebten wir tatsächlich eine Manifestation eines antiisraelischen Denkens. Aber damals gab es keine Angriffe auf Synagogen, niemand brannte etwas nieder. Es gab keine Pogrome gegen Juden und keine Anzeichen einer Ideologie des radikalen Islamismus. Aktuell sehen wir dagegen eine klare dschihadistische Ausrichtung. So würde ich die Ereignisse des letzten Herbstes nicht direkt mit denen vom letzten Sonntag in Verbindung bringen.

Welches Potenzial haben aktuell dschihadistische Gruppen in Dagestan?

Die Zellen existieren dauerhaft. Und recht gebildete Menschen schließen sich ihnen weiterhin an. Sie haben weiter Möglichkeiten, an eigene Waffen zu kommen. All das deutet darauf hin, dass die Behörden noch viel zu tun haben.

Kann es in der Republik erneut zu ähnlichen Terroranschlägen kommen?

Ja, das ist eine Art Protest gegen Probleme, die sich in den letzten Jahrzehnten angehäuft haben. Der jüngste Terroranschlag hat gezeigt, dass der terroristische Untergrund nicht zerstört werden kann. Zunächst schien es, dass ein Teil der Militanten vernichtet worden sei und der Rest für den »Islamischen Staat« gekämpft hat. Aber wir sehen, das Problem ist nicht gelöst. Und mit Gewalt alleine werden die Behörden dieses Problem auch nicht lösen können.

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