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»Die Texte waren verschlüsselt, wie Kassiber für Mithäftlinge«
Der Autor Jan Kuhlbrodt spricht über regionale Unterschiede der Literatur, über die Weltrettung und Gründe für seinen Zorn
Herr Kuhlbrodt, wie wird man Lyriker*in?
Irgendwann stellt man selbst oder stellen andere fest, dass man es ist. Als ich die ersten Gedichte schrieb, dachte ich jedenfalls nicht daran, einer zu werden.
Wie und warum fingen Sie an, Gedichte zu schreiben?
Das war in der EOS, also der Oberschule, weil es meine engeren Freunde auch taten. Und weil wir Unmengen Gedichte auch lasen. Es ging uns aber um den Spaß an der Sache und ums Ausprobieren. Also nicht um einen Beruf oder so. Andere spielten Fußball oder Geige. Glücklicherweise sind diese Gedichte, die ich damals schrieb, auch verschollen. Ich hatte damals auch akute Weltrettungsgedanken.
Sie sind in Chemnitz aufgewachsen. Wie stellten Sie sich von dort aus die Weltrettung so vor?
Zuerst ganz im Sinne meiner kommunistischen Erziehung, also Rettung vor dem Kapitalismus, der uns bedroht. Aber nach ein paar Wochen Militärdienst stand mir auch die Bedrohung von innen ganz gut vor Augen. Also musste man sich auch vor den Beschützern schützen, denn die wollten immer das Ganze retten, der Einzelne hätte ruhig draufgehen können. Der Witz aber ist, dass das Ganze aus Einzelnen besteht. Das hatten sie vergessen in ihrem Führerkult.
Und danach?
Später sah ich dann im Schreiben schon eine Art Ausweg. Weil Kunst ja doch irgendwie subjektiv ist, auch wo sie Allgemeines ausdrücken will. Man könnte also beides retten, die Welt und sich selbst. Aber die DDR hat sich dann ja selbst aus dem Weg geräumt. Später dann studierte ich Philosophie in Frankfurt und arbeitete in der ambulanten Pflege, um das zu finanzieren. Da habe ich zwar niemanden gerettet, aber doch geholfen, dass die Kunden einen Alltag hatten. Ich wurde zu ihren Händen, ihren Ohren und so weiter und das half auch mir. Die Vorstellung, so etwas wie Schriftsteller zu sein, kam dann aus der Versenkung hervor. Mit einem Kumpel bastelte ich im Selbstverlag ein erstes Buch.
Wann erschien dieses Buch?
Das war so 1992. Es war auch eher eine Art Kunstprojekt. Das erste »reguläre« Buch erschien 2001, nachdem ich in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut studiert hatte. Das war eine Art Auftragswerk im damaligen Lexikonboom.
Wie hat das Schreiben Sie verändert?
Das weiß ich gar nicht so recht. In etwa zu dieser Zeit wurden auch meine Kinder geboren und ich wurde eine Spur ernsthafter, aber auch verspielter. Vielleicht kann man sagen, dass das Schreiben auch eine Art Seismograf dieser Entwicklung war. Und so richtig verspielt kann man nur sein, wenn man zugleich ernst ist. Und seitdem ich Vater bin, weiß ich auch, was Sorge ist. Und deshalb kann ich albern sein, ohne zugleich doof zu wirken.
Jan Kuhlbrodt, geboren 1966 in Karl-Marx-Stadt, ist ein deutscher Schriftsteller. Er studierte Philosophie, Ökonomie, Soziologie und Politikwissenschaften in Leipzig und Frankfurt am Main. Heute lebt er in Leipzig.
Wenn man Ihre Beiträge bei Facebook verfolgt, finde ich auffällig, dass Sie mit einer ungeheuren Leidenschaft und Begeisterungsfähigkeit lesen. Ich würde Sie in erster Linie als Literaturmenschen beschreiben. Trifft es das?
Einerseits ja, obwohl ich glaube zu spüren, dass meine Begeisterungsfähigkeit über die Jahre etwas abnimmt. Dennoch ist mir die Literatur, oder Kunst überhaupt, eine Art Rettungsanker. Aufgrund körperlicher Einschränkungen kann ich nicht mehr spazieren, ich wandere also durch eine papierne Welt. Und ich stoße dort auf wunderbare Flecken. Natürlich auch auf weniger schöne. Bei denen hält man sich naturgemäß nicht länger auf.
Wenn Sie Rettungsanker sagen, meinen Sie damit so etwas wie Trost, oder geht das darüber hinaus?
Trost ja, aber auch wirklich ein Anker, also eine Verankerung in der Welt. Teilhabe, wenn man so will, und Anteilnahme. In der DDR las ich unter anderem, weil mir dies das Reisen ersetzte. Die Texte schlugen sozusagen Löcher in die Mauer. Jetzt ist es ähnlich. Eine Art Gehen ohne zu Laufen.
Gibt es Autor*innen, die für Sie eine besondere Rolle spielen?
Unbedingt. Sie wechseln natürlich immer wieder. Manche Texte jedoch brennen sich regelrecht ein, wie zum Beispiel »Tage und Nächte von Liebe und Krieg«, von Eduardo Galeano aus Uruguay. Oder kurze Prosa von Monterosso aus Guatemala. Das waren irre starke Momente bei der Lektüre.
Sie sind in jüngster Zeit aktivistischer geworden. Sie schreiben mehr über die Zumutungen, die zu ertragen sind, wenn man behindert ist. Ihr aktuelles Buch Krüppelpassion thematisiert das ja auch.
Das stimmt. Vorher hatte ich mich dagegen gewehrt. Ich wollte mir von der Krankheit, die mir die Bewegungsfreiheit nimmt, nicht noch vorschreiben lassen, worüber ich schreibe. Mittlerweile denke ich aber, ich sollte den Druck, der davon ausgeht, in Energie und damit auch in Kunst verwandeln. Ich hoffe natürlich auch auf einen aufklärerischen Effekt. Obwohl ich das einigermaßen nüchtern betrachte: Die Leute neigen eher zum Mitleid als zur Aktion. Dabei wäre Zorn die angemessene Reaktion auf die Zustände. Aber das sollte von Aufklärung nicht abhalten. Vielleicht bleibt ja irgendwas haften.
Verspüren Sie Zorn?
Ziemlich. Ich mochte es sehr, ab und an am Literaturinstitut zu unterrichten. Ich komme jetzt nicht mehr ins Gebäude, weil es keinen barrierefreien Zugang gibt. Ich kann dort keine Lesungen mehr besuchen. Das macht mich schon wütend. Und gestern war ich in Berlin. Drei Aufzüge der Berliner Verkehrsbetriebe waren defekt. Das erhöht den Aufwand enorm – und versaut einem die ohnehin spärliche Freude. Zorn ist da mehr als angemessen.
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Jammern und Zorn?
Jammern geht vielleicht nach innen oder ist eher ein Flehen als ein Verlangen. Ein Bitten und kein Fordern. Aber ehrlich: Manchmal muss man auch jammern, wenn einem jämmerlich zumute ist. Auch wenn es zu nichts führt außer einer gewissen Erleichterung.
Warum hat es die Lyrik so schwer dieser Tage?
Ich glaube, dass es die Lyrik schon immer recht schwer hatte, von Erfolgsphasen Einzelner mal abgesehen. Sie ist eben ein widerborstiges Genre und braucht eine gewisse Rezeptionshaltung, die sich mit dem Alltag schwer in Übereinstimmung bringen lässt, zumindest beim Großteil der Bevölkerung. Vielleicht ist sie deshalb auch eine Anzeige des Freiheitsstands der Gesellschaft. Eine freie Kunst benötigt einen freien Rezipienten. Wir leben aber in einer Zeit der Massenunterhaltung.
Das überrascht mich jetzt. Vielleicht unterliege ich da ja einem Wessi-Vorurteil, aber die Gesellschaft in der DDR war doch deutlich literarischer und literaturnäher als in der BRD oder in der heutigen Gesellschaft. Oder meinen Sie, die DDR sei in gewisser Hinsicht freier gewesen?
Nein. Aber der Zugang zu Büchern war sehr eingeschränkt. Und Literatur hatte darüber hinaus eine andere Bedeutung. In den Texten haben wir nicht selten nach versteckten Botschaften gesucht. Die Mitteilungen waren verschlüsselt oder kamen mit kolossaler Metaphorik daher. Kassiber sozusagen für Mithäftlinge. Mit frei allerdings meine ich auch nicht frei im juridischen Sinn, sondern eher beweglich im Denken. Prinzipiell stellte sich die DDR gern als »Leseland« dar, das war aber Bestandteil der Ideologie. Als ich nach Frankfurt am Main kam, hatten meine Freunde dort genauso viel gelesen wie ich. Allerdings erinnerten sie sich nicht an die Umstände, unter denen sie an die einzelnen Bücher gekommen waren. Ich schon.
Wie schauen Sie in die Zukunft?
Ich glaube, ich habe keine Angst vor der Zukunft. Etwas Sorge vielleicht, aber der Optimismus überwiegt. Ich kenne durch meine Töchter und durchs Unterrichten viele tolle junge Menschen.
Zum Schluss die wichtigste aller Fragen: Was unterscheidet einen guten Text von einem schlechten?
Grob gesagt: In einem guten Text geschieht Unerwartetes. Beispiel Monterosso: »Als ich erwachte, war der Dinosaurier noch da.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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