Großbritannien vor der Wahl: »Sie haben viel Mist gebaut«

Die britische Labour-Partei könnte in den Hochburgen der Tories das Rennen bei der Unterhauswahl machen

  • Peter Stäuber, Adderbury
  • Lesedauer: 8 Min.
Der Spitzenkandidat der Labour-Partei, Keir Starmer, ist Favorit bei der Wahl zum Unterhaus am Donnerstag.
Der Spitzenkandidat der Labour-Partei, Keir Starmer, ist Favorit bei der Wahl zum Unterhaus am Donnerstag.

»Quintessentially English!«, könnte man ausrufen, wenn man durch Adderbury spaziert. Ein englisches Musterdorf: Die honigfarbenen Kalksteinhäuser, die die Hauptstraße säumen, sind von Efeu und Flechten überwachsen, viele haben Strohdächer. An Stelle von Hausnummern findet man Namensschilder wie »Royal Oak Cottage« oder »Old Mill Home«. Es gibt eine denkmalgeschützte Dorfkirche sowie mehrere urige Pubs, und die lokale Volkstanz-Gemeinschaft, die »Adderbury Village Morris Men«, zählt zu den bekanntesten in England. An den Autos, die an den engen Gassen geparkt sind – eher Jaguar als Fiat –, lässt sich ablesen, dass es den Leuten hier tendenziell gut geht. Kurzum: Adderbury, ein 3000-Seelen-Dorf in der Grafschaft Oxfordshire, ist einer jener Orte, in dem der englische Konservatismus zu Hause ist. »Quintessentially Tory!«, wäre man versucht auszurufen. Und hundert Jahre lang wäre man damit richtig gelegen.

Oben an der Hauptstraße liegt »Harpers Coffee House«, wo es nach frischem Gebäck durftet. Ellie Harper, die Inhaberin, hat gerade Mittagspause, sie sitzt an der Theke und isst Tomaten- und Gurkensalat. Die 29-Jährige war bislang eine treue Tory-Wählerin. Aber wenn man sie jetzt, eine Woche vor dem Wahltermin, auf die Politik anspricht, sagt sie gereizt und ohne zu zögern: »Ich werde überhaupt nicht wählen. No way. Sie sind alle gleich nutzlos.« Sie, also die Politiker, allen voran Noch-Premierminister Rishi Sunak, seien völlig entrückt von der Lebensrealität der Leute, meint Harper. Mehr noch: So ziemlich alles, was sie sagen, sei »a load of rubbish«, dummes Zeug. Wenn sie wählen würde – und dazu müsste sie erst noch jemand überreden – dann würde sie ihr Kreuz erstmals bei Labour machen.

Da ist sie nicht die einzige hier. Adderbury liegt im Wahlkreis Banbury. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs schicken die Wähler hier einen Tory ins Parlament von Westminster. 2019 war es Victoria Prentis, sie ist heute Attorney General, also die oberste Rechtsberaterin der Regierung. Ihre Mehrheit betrug damals mehr als 12 000 Stimmen. Aber das könnte sich am 4. Juli ändern: Laut Umfragen liegt Labour vorn, es ist gut möglich, dass die sozialdemokratische Partei hier zum ersten Mal gewinnt.

Es gibt in Süd- und Mittelengland eine ganze Reihe vormals sicherer Tory-Wahlkreise wie Banbury, die nächste Woche an Labour oder die Liberaldemokraten gehen könnten. Sogar die Grünen haben Chancen, den Konservativen einen Sitz abzujagen. Die »blaue Mauer«, wie das englische Kerngebiet der Tories genannt wird, droht zu bröckeln. Wenn die Partei plötzlich um solche Wahlkreise bangen muss, steht es tatsächlich bitter um die politische Kraft, die die vergangenen zwei Jahrhunderte in Großbritannien zu einem wesentlichen Teil gestaltet hat.

Nüchtern betrachtet gibt es gute Gründe für den Niedergang von Tory Britain. Vierzehn Jahre lang ist die Partei an der Macht gewesen, aber die Errungenschaften sind dünn gesät. Die gleichgeschlechtliche Ehe, Gebühren für Plastiksäcke, die Erhöhung des Mindestlohns finden sich beispielsweise darunter. Auch hat die damalige Premierministerin Theresa May das Land bereits 2019 verpflichtet, bis 2050 die Klimaneutralität zu erlangen – Großbritannien war die erste große Industrienation, die sich dieses Ziel gesteckt hat. Viel mehr Erfolge findet man nicht.

Während des Wahlkampfs hatten die Führungsleute der Tories denn auch Mühe, ihre lange Regierungszeit als einen Erfolg zu präsentieren. Rishi Sunak verweist routinemäßig auf die Tatsache, dass das Land in den vergangenen fünf Jahren von gleich zwei unvorhersehbaren Krisen heimgesucht wurde – die Covid-Pandemie und die russische Invasion in die Ukraine; jede Regierung hätte Mühe gehabt, damit fertigzuwerden.

Selbst in konservativen ländlichen Gegenden – wie Adderbury – könnte die Labour-Partei bei der Wahl stärkste Kraft werden.
Selbst in konservativen ländlichen Gegenden – wie Adderbury – könnte die Labour-Partei bei der Wahl stärkste Kraft werden.

Das ist nicht falsch. Aber die Probleme gehen weit über die Verwerfungen des Gesundheitsnotstands und des Kriegs in Europa hinaus. In den vergangenen Wochen sah man in den britischen Medien viele Grafiken und statistische Analysen, die aufzeigten, wie sich die britische Wirtschaft und Gesellschaft seit 2010 verändert hat. Das Fazit: Die Armut hat zugenommen, die Investitionen in Schulen und Gesundheitsdienst haben abgenommen, die Löhne stagnieren, und die Sozialleistungen sind stark gestutzt worden. Unterdessen sind die Immobilienpreise in immer unerschwinglichere Höhen gestiegen.

»They fucked up a lot of things«, sagt Charlie – sie haben jede Menge Mist gebaut. Der 34-Jährige hat gerade seinen dicken schwarzen SUV in einer Seitengasse in Adderbury geparkt, er ist geschäftlich hier. Charlie, der nur seinen Vornamen nennen will, hat einen Bürstenhaarschnitt, er trägt dunkelgrüne Shorts und hat sein T-Shirt ausgezogen – wir sind in England, es ist ein heißer Tag. Seine Sonnenbrille hängt an einer silbernen Kette über der getönten Brust. Wenn Matt Smith in einem Film über einen britischen Soldaten die Hauptrolle spielen würde, dann sähe er aus wie Charlie jetzt.

Aber Charlie ist weder Schauspieler noch Soldat, sondern Unternehmer, »erfolgreicher Unternehmer«, wie er sagt. Auch er hat bislang Tory gewählt, seine Haltungen sind klassisch Mitte-rechts. Er will die Steuerlast möglichst gering halten, hält Brexit für einen Fehler, weil er das Wachstum gehemmt hat; er liebt sein Land und findet es peinlich, dass Großbritannien nunmehr eine »zweitrangige Nation« sei. Den linken Ex-Labour-Chef Jeremy Corbyn nennt er einen »Irren«, aber für die rechtspopulistisch bis rechtsextreme Reform-Partei von Nigel Farage werde er »nie im Leben« stimmen. Der jetzige Labour-Chef Keir Starmer sei ihm nicht völlig unsympathisch, aber er fürchtet, dass er die Steuern erhöhen werde. Das sei sein Problem: »Ich traue Politikern nicht, egal, von welcher Partei sie sind.«

Auch dies ist eine Haltung, die unter den Briten zunehmend verbreitet ist. Ein im Juni publizierter Bericht des National Centre for Social Research kommt zum Schluss, dass das Vertrauen in die Politiker auf einem absoluten Tiefstand angekommen ist. Die vergangenen fünf Jahre zählten zu »den politisch turbulentesten und ökonomisch schwierigsten« seit dem Zweiten Weltkrieg, schreiben die Autoren. Schon vorher seien die Briten nicht sehr zuversichtlich, dass die Entscheidungsträger in Westminster im Interesse der Bevölkerung handeln – aber zuletzt habe es eine Reihe von Ereignissen gegeben, die den Eindruck gefestigt haben, die Politiker seien unehrlich und unzuverlässig: »Zwei Premierminister sind gestürzt worden, einer (Boris Johnson), weil es Zweifel an seiner Aufrichtigkeit gab, die andere (Liz Truss) nachdem sie eine Krise in den Finanzmärkten ausgelöst hatte«, so der Bericht. Auch dass der Brexit nicht zu den versprochenen Boomzeiten geführt hat, habe das Vertrauen vieler Wähler untergraben.

Charlie bringt die Desillusionierung, die viele Briten spüren, ziemlich brutal auf den Punkt: »Guy Fawkes hatte schon die richtige Idee«, sagt er schmunzelnd. Guy Fawkes ist Großbritanniens berüchtigtster Konspirant. Zusammen mit seinen Mitverschwörern plante er im Jahr 1605, das gesamte englische Parlament mitsamt Insassen in die Luft zu sprengen. Der Plan scheiterte, Fawkes wurde gefasst, danach gehängt, ausgeweidet und gevierteilt.

»Ich werde überhaupt nicht wählen. No way. Sie sind alle gleich nutzlos.«

Elle Harper

Charlie zieht sich sein T-Shirt an, er muss jetzt arbeiten. Er weist auf die zwei schmucken Strohdach-Cottages, vor deren Eingang er steht. Wochenlang war er mit der Renovierung beschäftigt, jetzt ist die Arbeit fast fertig. Bald wird er die Häuser vermieten können – Immobilien sind eines seiner Geschäftsfelder. Wählen wird er wohl, sagt er zum Abschied, aber für welche Partei, das wisse er noch nicht.

Auch weitere Gespräche mit den Bewohnern von Adderbury ergeben ein klares Bild: Alle sind stinksauer auf die Politiker, mit Enthusiasmus wählt kaum jemand – und wenn, dann nicht für die Tories oder Labour. Zwei junge Männer, die in Bauarbeiterkluft die Straße hinauf kommen, marschieren wortlos weiter, als sie auf die Wahlen angesprochen werden. Dann ruft einer über die Schulter: »Ich werde Reform wählen!« Der Grund: »Wir müssen endlich die Grenzen dichtmachen!« ruft der Mann, bevor er davon trottet.

In den Wahlen vom 4. Juli, da sind sich Statistiker einig, werden die zwei großen Parteien unter Druck geraten wie noch nie zuvor. Wenn sich das Resultat mit den derzeitigen Umfragen deckt, dann werde der Stimmenanteil der Tory- und der Labour-Partei zusammengerechnet so klein sein wie noch nie seit der Herausbildung des Zweiparteiensystems vor über hundert Jahren, schreibt die »Financial Times«. Kleinere Parteien – sowohl links als auch rechts – sind auf dem Vormarsch, darunter Reform UK, die Liberaldemokraten und die Grünen.

Dennoch dürfte Labour dank des Mehrheitswahlsystems als haushohe Siegerin aus der Wahl hervorgehen. Laut Prognosen könnte sie etwa 42 Prozent der Stimmen gewinnen – was sich in mehr als 70 Prozent der Sitze übersetzen würde.

Der Café-Betreiberin Ellie Harper ist es egal. Sie habe mit der Politik abgeschlossen, sagt sie. Mit Begeisterung spricht sie nur, wenn sie von der Arbeit hier in ihrem Lokal erzählt, von der Landschaft ihrer Heimat Oxfordshire, und von Adderbury. »It’s really lovely here«. Erneut so irritierend »quintessentially English«, dieser Ausdruck – und ihre Lokal-Fixierung bringt auf den Punkt, vor welcher Herausforderung die nächste Regierung stehen wird: Wenn eine junge Frau so desillusioniert ist mit den Entscheidungsträgern in Westminster, dass sie der Politik rein gar nichts Positives abgewinnen kann, dann wird es in den kommenden Jahren vor allem darum gehen müssen, das Vertrauen der Wähler zurückzugewinnen.

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