Größen und Gernegrößen

Zum Tod des Karikaturisten und Feuilletonisten Harald Kretzschmar

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Harald Kretzschmar schaute nicht von oben, sondern eher von der Seite.
Harald Kretzschmar schaute nicht von oben, sondern eher von der Seite.

Ruhig bleiben? Nein, das ging nicht. Nicht bei ihm. Harald Kretzschmar zeigte in seinen Bewegungen zwar ein bedächtiges, gewindeartiges Schleichen und Schlurfen, damit schraubte er sich, scheinbar demütig und unbeholfen, in Räume hinein, aber: Dahinter steckten Gewieftheit, Resolutheit und Zielbewusstheit eines Quirligen. Er hatte Lust an der Explosion. Und an Position! Dieser Bursche mit der ausdauernden Liebe zu Flanellhemden wusste, was er zu bieten hatte. Ein Mann, der Jahrzehnte angriffslustig auf den Zeichenstrich ging – jenen Strich, auf dem die nackteste aller Wahrheiten gehandelt wird. Die Kenntlichkeit nämlich, die Wesensart einer Person. Harald Kretzschmar erfasste zeichnend jene Kontur, die schonungslos den Menschen erzählt: Nichts ist und bleibt rein.

Wirklich schonungslos? Nein, denn dieser Zeichner, Porträtskizzenmeister, auch Plastiker und viele Jahre nd-Karikaturist legte Dinge zwar offen, aber nie in Häme bloß. Nie brachten ihn Züge eines Charakters in jene böse Versuchung, alles zynisch zu verzerren. Natürlich attackierte er, wenn er zeichnete, jedwede (langweilende) Ebenmäßigkeit eines Gesichts, aber jeder Bosheit verweigerte er, ein Gesicht zu beherrschen.

Wie gesagt: Ruhig sein, das ging bei ihm nicht – Kretzschmar war ein wacher Choleriker, der mit Ideen warf. Er reiste und rumorte herum, er stellte aus, er schrieb Bücher, er zeichnete unentwegt, Aktuelles wie Gleichnishaftes, und wie früher in der »Weltbühne«, so war er auch unserer Redaktion ein störrisch insistierender Feuilletonist, immer Flaneur, und immer Layouter und Chefredakteur in einem, ein Einmischer, äußerst beschlagen im ewigen Schnelligkeitskurs Zeitung. Souverän nahm er sich das Recht, beim allwaltenden Wort- und Bild-Rennen um die jeweils neueste ästhetische Mode einfach stehen zu bleiben und dann väterweisheitszähneknirschend die Welt zu zermurren. Oder sie zu betoben.

Der wahre Künstler bleibt ja bei seiner Suche nach Wahrhaftigkeit ein paar Schritte vor dem unsichtbaren Ziel stehen. Weil es eine letztgültige Klarheit des Ziels nicht gibt. Annäherung ist das Höchsterreichbare. So dachte, fühlte, arbeitete auch Harald. Ungeeignet für Comedy, für Komödie indes nicht. Comedy ist Tieffliegen, Komödie hat Untiefen.

Haralds Gerätschaft für die Zeichnungen und Acrylporträts: zart das Blei, unbestechlich der Filz, geradezu bohrend der Pinsel, fräsend jeder Stift – doch stets obsiegte die Anschauung eines Dienenden. Ich blicke auf einige seiner Porträts: George Tabori schaut wie Pumuckl, Peter Handke reckt den Hals wie eine angealterte Blume der Romantik, Thomas Bernhard ist rotnasig freundlich, Kafka wirkt wie der dämonische Teil eines dämonischen Schlosses. Kretzschmar zeichnete künstlerische Größen, aber auch politische Gernegrößen. Allen Köpfen blieb die Frage eingeschrieben: Wie viel Köpfchen ist wohl dabei?

Karikatur bedeutet: Dinge sehen, wie sie sind. Dazu muss man die Perspektive, die Blickwinkel wechseln. Kretzschmar schaute nicht von oben, sondern eher von der Seite, die ihm niemals bloß Bilderbuch- oder nur Kehrseite war. Er störte auf, ohne zu stören. Respekt nennt man das. Sezieren, ohne ins Fleisch zu schneiden. Sprechen wir’s doch aus: Zuneigung. In einem Harzer Urlauberheim, in Schierke, sah der sehr junge Harald K. den Schriftsteller Bernhard Kellermann sitzen, er blickte genau hin zu dieser Berühmtheit, speicherte das Bild im Kopf, schoss hinaus, zeichnete, kehrte zurück. Kellermann staunte und gab ein Autogramm. Kretzschmars Berufsgeheimnis und Seelenschwanken: Was ist wichtiger – Autogramm oder Zeichnung?

Geboren wurde er 1931 in Berlin-Steglitz, aufgewachsen ist er in Dresden. Das Knallige von der Spree mischte sich mit dem Knietschigen von der Elbe und ließ sich schließlich in Kleinmachnow nieder, wo er nicht nur Wohner, sondern Wühler war: leidenschaftlicher Heimatforscher. Natürlich wurde auch daraus ein Buch – der Mann hatte zehn Finger, aber weit mehr Fühler.

Einst war er Grafikstudent in Leipzig, wurde bald Arbeiter am »Eulenspiegel« – seine wöchentliche Porträt-Zeichnung in dieser Zeitschrift (beginnend mit Wolfgang Langhoff) steigerte sich zur Kult-Ecke, bis zum Sommer 1991 wuchs die »Prominentenzyklopädie« auf über 1300 Blatt. Schwarz-Weiß als reichhaltigste Farbe. Und Bände über Bände: »Mimen & Mienen. 50 Köpfe von Bühne und Film«, »Eulen-Leute«, »Von Angesicht zu Angesicht« oder »Wem die Nase passt«.

Er gehörte zu den Wegbereitern des Greizer »Satiricums« 1975, dieser ständigen, wahrhaft nationalen Karikaturensammlung der DDR, mit Brücken ins Geschichtliche, ins Europäische. Tradition als Tankstelle. An der Dresdner Kreuzschule übrigens war Kritzler Harald gefragt worden, wieso er sich die Frechheit nehme, Kulturheroen wie Thomas Mann zu zeichnen. Ganz einfach, sagte Harald, er kenne ihn doch, er habe ihn im Radio gehört. Dies belegt: Künstler geben über den Charakter von Kunst die schürfendsten Antworten dann, wenn sie noch gar keine Künstler sind.

Wenn von einem gesagt wird, er sei einer der besten Schreiber unter den Zeichnern, aber auch der beste Zeichner unter den Schreibern, so kann dies härteste Kritik sein, kostümiert als Schmeichelei. Kretzschmar aber war ausgewiesen solitär, da wie dort, der Stift immer zwiefach in Arbeit, zeichnend wie schreibend. Kritisch blickte er in seinen Texten auf den Zeitgeist. Spöttelte in jüngerer Zeit gegen identitätspolitischen Eifer, fürchtete in Gesinnungs- und Genderfragen »das Virus verbohrter Ernsthaftigkeit«.

Vor allem schrieb er vehement gegen ein Geschichtsempfinden, das Menschen im Osten lediglich ein einziges Glück nach 1990 zuweisen möchte: übernommen worden zu sein. »Stets erlebe ich das Falsche« – wer seine Erinnerungen an die DDR so spitz und listig betitelt, weiß sehr wohl, was im Leben Wert hatte und behält. Das Buch ist eine souveräne Antwort auf einen verbreitet törichten Eifer in den neuen Bundesländern – Westdeutschen zu beweisen: Wir sind doch wie ihr! Kretzschmar widerspricht und erzählt von der einzigen Möglichkeit, zu dieser Gesellschaft zu gehören; es ist »die Anerkenntnis meiner Würde als jemand mit anderen Erfahrungen«.

Über viele Jahre lieferte er dem »nd« auch, vor allem in Wochenendbeilagen, bestechend grübelnde philosophische Cartoons. Auf diesen Blättern platzen die Menschen entweder vor eingebildeter Fülle, oder sie gleichen ausgerissenen Fliegen- und Spinnenbeinen, die aber nicht mehr länger herumliegen wollen, sich einen Hut aufsetzen und ein spillriges Eigenleben beginnen – als verhärmte Propheten, huschende Spitzel, zittrige Abenteurer, unsicher Suchende. Eine endlose Karawanserei der Zeittypen. Ruhelose, von Albträumen Getriebene. Ein Witz von geistesheller Raben-Schwärze. Und emsig legen die Menschen ihrer Entfremdung eine Maske an. Linienleichte, strichbizarre Bilder, auf denen das Winzige gegen das Wuchtige, das Wartende gegen das Wuselnde antänzelt. Wankende und Schwankende, Steigende und Stürzende, eitel und eifrig, verstiegen und verloren.

Harald Kretzschmars Augenmerk gehörte dem dünnen Haarriss an jeder Wand. Denn da kündigt sich Öffnung zur Welt an, im Gegensatz zu jedem geschlossenen Weltbild. Noch im vergangenen Monat telefonierten wir öfters miteinander, immer schien mir nach diesen Gesprächen, ich müsse doch noch einmal nachsehen, ob ich nicht einer falschen Altersangabe aufgesessen sei. Nein, ruhig ging bei ihm wirklich nicht! Bis zuletzt nicht. So viel Lebendigkeit, so viel Drang nach Ausdruck und Anteilnahme an Welt – ein Mensch, wunderbar unentschieden zwischen zwei Optionen: weiter eingreifen zu müssen oder endlich loslassen zu dürfen. Nun ist Harald Kretzschmar am vergangenen Donnerstag im Alter von 93 Jahren gestorben.

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