Gleb Babitsch: Der Antikriegs­kandidat

Gleb Babitsch braucht 5646 Unterschriften, um an der Wahl in Moskau teilnehmen zu können. Die sammelt sein Team für ihn

  • Varvara Kolotilova
  • Lesedauer: 6 Min.
Wahlkampf in der Sommerhitze: Unermüdlich sammelt das Team von Gleb Babitsch Unterschriften, damit der Linke als Kandidat für die Moskauer Parlamentswahl zugelassen wird.
Wahlkampf in der Sommerhitze: Unermüdlich sammelt das Team von Gleb Babitsch Unterschriften, damit der Linke als Kandidat für die Moskauer Parlamentswahl zugelassen wird.

Gegen den Moskauer Sommer haben die Ventilatoren keine Chance. Die drückende Hitze dringt auch in die beiden Kellerräume eines Wohnhauses vor, in dem seit drei Wochen jeden Abend ab halb zehn hektische Betriebsamkeit herrscht. Unterschriftenlisten werden auf Vollständigkeit geprüft und in Tabellen eingetragen. Alles muss stimmen, denn je geringer die Fehlerquote ausfällt, desto mehr steigen die Chancen, dass die Wahlkommission grünes Licht gibt. 5646 gültige Unterschriften muss Gleb Babitsch, Linker und Umweltaktivist, bis zum 7. Juli vorlegen, um die formalen Kriterien für die Zulassung als nicht parteigebundener Kandidat für die Wahlen zum Moskauer Stadtparlament zu erfüllen. Sollte er in seinem Wahlkreis – einem von 45 – im Süden der Stadt antreten, können im September über 170 000 Wahlberechtigte entscheiden, ob sie ihre Stimme für ihn abgeben.

Doch jetzt gibt es erst einmal Applaus. Der Kandidat hält sich im Hintergrund. Das Lob gebührt dem Helferteam. Von insgesamt über 150 an der Wahlkampagne Beteiligten haben sich am Sonntag knapp 40 Leute zum wöchentlichen Plenum versammelt. Der Großteil davon ist höchstens Mitte 20, wie der 24-jährige Babitsch. Vergangene Woche kamen 1429 Unterschriften zusammen, jetzt im Endspurt müssen es 320 pro Tag werden – eine echte Herausforderung. Ein Helfer ergreift das Wort: »Ich habe ein Blog mit dem Titel geführt, wie leicht es ist, Unterschriften zu sammeln. Aber ich muss das revidieren, es macht wirklich enorm viel Arbeit!«

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Das Sammeln von Unterschriften wird immer schwerer

An der Metrostation Konkowo im Süden von Moskau gibt es zwar schattige Plätze, aber bei über 30 Grad halten sich Passanten dort kaum länger auf als nötig. Mit Wahlwerbezetteln und Unterschriftenlisten unter dem Arm hält Alina nach einer aussichtsreichen Gesprächsperson Ausschau. Eigentlich hat sie keine Probleme damit, Unbekannte anzusprechen, aber heute läuft es schleppend. »Ich spüre, dass nichts dabei rauskommt«, sagt sie leicht resigniert, wendet sich aber gleich darauf einer Rentnerin zu, die sich auf ein Gespräch einlässt. Aber die Frau hat ihren Ausweis nicht dabei, um die Passdaten einzutragen. Vielleicht unterschreibt sie später, sagt sie und kündigt an, wiederzukommen. Solche Situationen sind nicht ungewöhnlich, manche kehren tatsächlich zurück.

Vor den Dumawahlen 2021 sammelte Alina Unterschriften für Anastasia Brjuchanowa, die als unabhängige Politikerin antreten wollte. »Damals war es wesentlich leichter«, konstatiert Alina. Inzwischen sind die Leute misstrauischer und wollen mit Politik noch weniger zu tun haben als vor drei Jahren. Ein ganz in Schwarz gekleideter Mann zeigt sich zunächst abweisend, fängt dann trotzdem an Fragen zu stellen. Er will bis ins kleinste Detail wissen, für wen Alina wirbt, doch Skepsis überwiegt. Am Abend stehen in ihrer Liste zwölf Namen.

Frieden, Gleichheit, Zukunft lautet das Motto der Kampagne

Zu Beginn ihrer Nachmittagsschicht kassiert Alina eine herbe Absage. Ob sie überhaupt ein Gewissen habe, weil sie Unterschriften für einen so jungen Kandidaten sammele, der im Leben noch nichts erreicht und kein Haus gebaut habe, bellte ein Mann mittleren Alters sie an. Solche Anmerkungen sind noch relativ harmlos. Tage zuvor echauffierte sich ein anderer Mann dermaßen, dass er sich in unmittelbarer Nähe positionierte und versuchte, Unterschriftswillige davon abzubringen zu unterschreiben, indem er lautstark wetterte: »Er ist gegen die SWO!«

Hinter diesem Kürzel verbirgt sich die sogenannte militärische Spezialoperation, also die offizielle Bezeichnung für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wer den Sachverhalt beim Namen nennt, macht sich strafbar, kann wegen »Verbreitung von Fake News« oder »Diskreditierung der Armee« angeklagt werden. Den Krieg nicht zu unterstützen ist formal betrachtet zumindest nicht illegal. Zum Motto seiner Wahlkampagne kürte Gleb Babitsch drei Worte: Frieden, Gleichheit, Zukunft. Selbst das ist äußerst gewagt. Und dieses Motto spaltet.

Haltung zu Krieg und Migration entzweit die Russen

»Viele Leute sind politisiert«, ist sich Grischa sicher. Zwei Fragen polarisieren die Menschen – die Einstellung zum Krieg und zu Migration. Dass Babitsch ein Antikriegskandidat ist, kommuniziert Grischa, der ebenfalls die Kampagne von Babitsch unterstützt, überraschend offen. Allerdings erst dann, wenn er sich davon überzeugt hat, wie sein Gegenüber denkt. Am äußeren Erscheinungsbild lasse sich jedenfalls nicht einschätzen, welchen politischen Einstellungen jemand anhänge, lautet sein Fazit der letzten Wochen. Warum jemand unterzeichne, habe unterschiedliche Gründe. Manche wollten grundsätzlich einen unabhängigen Kandidaten unterstützen, andere seien für Gleb Babitsch und sein Programm.

Ohne Frieden sieht Babitsch keine Entwicklungsperspektiven, für die er konkrete Vorstellungen hat. Auf Telegram schreibt er, dass er sich für ein Russland ohne Vorurteile einsetze, in dem die Menschen frei und gleich sind. In seinem Wahlkreis will er ein besseres Lebensumfeld schaffen, mit Mülltrennung und Barrierefreiheit. Die Stärkung der lokalen Selbstverwaltung gehört ebenso zu seinen Themen wie Unterstützung für Opfer von häuslicher Gewalt. Es sei aber auch vorgekommen, dass Menschen schlichtweg aus Sympathie für den Wahlhelfer unterschrieben haben, sagt Grischa. Ihm sei es schon passiert, dass Alkoholiker aus Mitgefühl unterzeichneten, weil er für sein Engagement nur eine kleine Aufwandsentschädigung erhält.

Es geht um Teilhabe an der lokalen Community

Mit gerade einmal 19 Jahren gehört Grischa zu den Jüngsten im Team. Für ihn sei das Schlimmste, wenn man ihn völlig ignoriere, am Diskutieren und Agitieren hat er hingegen sichtlich Freude. Bewusst ist ihm zudem, dass Babitschs Chancen, seinen Namen auf den Stimmzetteln zu sehen, begrenzt sind. »Ich beteilige mich nicht wegen des Resultats, sondern weil die Kampagne einen legalen Anlass bietet, sich politisch zu betätigen«, begründet er seine Teilnahme.

Als kritischer Lokalaktivist in seinem Heimat-Stadtteil Tjoplyj Stan, der schon bei den Bezirkswahlen 2022 an den politischen Gegebenheiten scheiterte, weiß Gleb Babitsch, wie wichtig ein offizielles Mandat ist. Und dass sich der Versuch, eines zu erringen, lohnt. »Dank unserer Kampagne haben wir die Möglichkeit, unsere lokale Community zu stärken, viele Menschen zu erreichen und ihnen zu vermitteln, dass es in Russland eine politische Alternative zur staatlichen Propaganda und zu dem Kurs gibt, den der Staat vorgibt«, konstatiert er. Dafür erhält der in einer linken Familie sozialisierte studierte Biologe reichlich positives Feedback.

Nur wenige Unterschriften fehlen zur Zulassung

Babitsch weiß auch, wie sich das Blatt gegen unabhängige Kandidaten wenden kann. Vor drei Jahren war er Teil des Wahlkampfteams des Uni-Dozenten und Sozialisten Michail Lobanow, der damals bei den Dumawahlen sein Direktmandat an den Wahlurnen gewonnen hatte, bei der parallel laufenden elektronischen Abstimmung jedoch unterlag. Vor einem Jahr wurde Lobanow zum »ausländischen Agenten« erklärt, verlor seine Stelle an der Lomonossow-Universität und verließ Russland danach.

Jeden Freitag, wenn die Liste »ausländischer Agenten« erneuert wird, hofft Babitsch, dass sein Name nicht darauf auftaucht. Denn in dem Fall dürfte er bei keinen Wahlen mehr antreten. Das hat die Staatsduma vor zwei Monaten beschlossen. Sich von der Politik verabschieden würde er trotzdem nicht. So wie Sascha, einer der Helfer. Zwei Tage, nachdem er beim Unterschriftensammeln tätlich angegriffen wurde, stand Sascha wieder auf seinem Posten. Mit dem Ziel, die 5646 Unterschriften doch noch bis Sonntag zusammenzubekommen. Das könnte tatsächlich klappen. Lediglich 139 Unterstützer fehlten Babitsch Am Freitag noch, um Kandidat werden zu können.

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