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Münte und Minderheit
In Thüringen herrscht Ernüchterung nach fünf Jahren Regieren mit wechselnder Mehrheit
Es gibt geistreiche Aussprüche aus den vergangenen Jahren, die inzwischen fest zur politischen Kultur gehören. Eine davon stammt von Franz Müntefering. Als der Sozialdemokrat sich 2004 um den Bundesvorsitz seiner Partei bewarb, prägte er einen Satz, dem es an Klarheit nicht mangelt. So wichtig die Opposition im politischen System Deutschlands sei, argumentierte Müntefering damals, so wenig wolle er, dass die SPD diese Rolle annehme. »Opposition ist Mist«, rief Müntefering den Delegierten eines Parteitags zu, die ihn für diese Aussage feierten.
Zwanzig Jahre nachdem Müntefering diesen Satz gesagt hat, haben sich viele politische Koordinaten in Deutschland verschoben. Das gilt für kein Bundesland so sehr wie für Thüringen, wo es seit 2019 vorbei ist mit klassischen politischen Kategorien wie Regierung und Opposition. Aber in abgewandelter Form gilt dieser Ausspruch Münteferings noch immer. Selbst in Thüringen, wo Mitte Juni die letzte planmäßige Sitzung des Landesparlaments in dieser Legislaturperiode stattgefunden hat.
Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.
Die meisten Abgeordneten sind inzwischen ernüchtert darüber, wie das politische Experiment einer Minderheitenkoalition ausgegangen ist, das im Freistaat in den vergangenen fünf Jahren probiert wurde. Bei diesem Modell gibt es keine Koalition im Parlament, die über eine eigene Mehrheit an Abgeordnetensitzen verfügt. Vielmehr ist diese selbst in einer Minderheitenrolle gegenüber anderen, die Opposition bildenden Kräften im Parlament, auch wenn diese Koalition eine Regierung stützt. Sind sich die Oppositionskräfte aber einig, dann stellen sie die Mehrheit, dann regieren sie das Land und die regierungstragende Koalition ist die Opposition. Bei der Arbeit des Parlaments ist nie ganz klar, wer gerade regiert und wer opponiert.
Dabei wäre es falsch zu behaupten, dass das Minderheitsmodell gar nicht funktioniert hätte. Linke, SPD und Grüne haben nach der Landtagswahl vor fünf Jahren eine Koalition im Landtag gebildet, der stets vier Stimmen für eine eigene parlamentarische Mehrheit gefehlt haben. Vor allem mit der CDU hat Rot-Rot-Grün deshalb Kompromisse gesucht. Häufig sind die sogar gefunden worden.
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) reagiert ob dieser Bilanz inzwischen regelmäßig gereizt, wenn ihm vorgeworfen wird, er und seine Minderheitsregierung hätten das Land in dieser Legislaturperiode eigentlich nur verwaltet und politisch gar nichts bewegt. Mehr als 50 Mal habe sich Rot-Rot-Grün im Landtag entweder mit der CDU oder der FDP oder auch mit beiden politischen Kräften alleine zwischen Mai 2023 und Juni 2024 auf Dinge verständigt und dann gemeinsam »durchs Ziel gebracht«, sagt Ramelow.
Zu den Dingen, auf die Ramelow verweist, gehören zum Beispiel die Einführung eines Sinnesbehindertengeldes, die Neuwahl des Landesbeauftragten zur Aufarbeitung des SED-Unrechts und die Verbesserung des Betreuungsschlüssels für Kindergärten.
Tatsächlich haben sich Rot-Rot-Grün und die CDU in den vergangenen Jahren auch immer auf einen Landeshaushalt geeinigt, wenngleich man darüber streiten kann, ob das jeweils ein gemeinsames Projekt war oder nicht. Denn beispielsweise die Verabschiedung des Haushalts für 2024 durch Rot-Rot-Grün hat die CDU dadurch möglich gemacht, dass sie sich bei der finalen Abstimmung über das entsprechende Gesetz enthalten hat – statt dafür zu stimmen. Obwohl es vorher monatelang Gespräche zwischen Rot-Rot-Grün und der Union über den Inhalt des Haushaltes gegeben hatte und die CDU dabei auch zahlreiche ihrer Projekte durchsetzen konnte. Die Enthaltung sollte dennoch die Rolle der CDU als »konstruktive Opposition« dokumentieren, die der Unions-Fraktionsvorsitzende Mario Voigt stets für sich und seine Leute reklamiert hat.
Für Ramelow ist diese Bilanz ein Beweis dafür, dass sich »unter Demokraten« immer Kompromisse finden lassen, weshalb er sich »ausdrücklich« bei CDU und FDP für deren »konstruktive« Mitarbeit in der Landespolitik in der zu Ende gehenden Legislaturperiode bedankte. Es habe in Thüringen in den vergangenen Jahren deshalb keine Stagnation gegeben, keinen Stillstand, kein bloßes Verwalten.
Aber auch Ramelow räumt ein, dass die Sache mit der Minderheitskoalition nichts ist, was in Deutschland oder Thüringen wirklich zukunftsfähig wäre, »eine Minderheitsregierung ist wirklich keine Freude«.
Geärgert hat sich Ramelow, dass CDU und FDP bei zwei weithin beachteten Gelegenheiten mithilfe der AfD die Machtverhältnisse im Landtag gegen die rot-rot-grüne Minderheitskoalition gedreht hatten: Das De-facto-Verbot von Windrädern im Wald hat die Opposition im Landtag gegen den Willen der Koalition durchgesetzt. Und bei der Senkung der Grunderwerbssteuer von zuvor 6,5 auf 5 Prozent haben die Rechtsextremisten, Liberalen und Konservativen die Regierungskoalition ebenfalls in die Rolle der Opposition getrieben. Auch da hat dieses informelle Zweckbündnis ein Stück weit das Land regiert.
Die AfD hatte deshalb im Rahmen des Minderheitenmodells in Thüringen eine Gestaltungsmacht, die deren Fraktion in einer klassischen Mehrheit-Minderheit-Konstellation niemals gehabt hätte. Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Landtagsfraktion, Torben Braga, redet darüber ganz offen. Trotz der Rolle der AfD »als Schmuddelkinder, mit denen keiner spielen möchte«, habe seine Fraktion eine große Wirkung erzielt. Es ist also kein Wunder, dass die AfD nicht unbedingt ein Problem damit hat, wenn in der nächsten Legislaturperiode wieder eine Minderheitskoalition gebildet werden müsste. »Je besser unser Wahlergebnis, desto eher ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass wir im Parlament Einfluss nehmen können«, sagt Braga.
Jene, die im Landtag die andauernden Wechselspiele von Regieren und Opponieren mitgemacht haben, sind dagegen nicht gerade euphorisch. Die CDU und FDP sind in ihrem Urteil über die Minderheitenkoalition ganz in ihrer klassischen Oppositionsrolle.
Rot-Rot-Grün habe kraftlos agiert, sagt Voigt. FDP-Gruppensprecher Thomas Kemmerich spricht davon, Linke, SPD und Grüne hätten das Land ruiniert – und zwar schon seit Rot-Rot-Grün 2014 das erste Mal parlamentarische Gestaltungsmacht bekam. In der sechsten Legislaturperiode konnte sich Koalition noch auf eine Ein-Stimmen-Mehrheit im Landtag stützen. »Das Land ist einem schlechteren Zustand als 2014«, sagt Kemmerich.
Auf der anderen Seite gibt es auch bei Linke, SPD, Grünen keine Lust mehr, Minderheitsmodelle fortzusetzen – wenngleich aber alle Umfragen aus den vergangenen Monaten und auch das Ergebnis der Europawahl nahe legen, dass es nach der Wahl am 1. September wieder auf ein Minderheitenmodell herauslaufen wird. Eine solche Notlösung sei niemals ein politisches Ziel, sagt Steffen Dittes. »Das sagt Ihnen jeder, der in einer Minderheitsregierung ist: Dass das Mist ist.«
Dittes kann das, was viele im Landtag über das Minderheitsmodell denken, so offen aussprechen, sich dabei an Müntefering anlehnen, weil er mit dem SPD-Mann bald etwas gemeinsam hat. Mit dem Ende dieser Legislaturperiode wird er auf eigenen Wunsch aus der Landespolitik ausscheiden. Er wird Politik-Rentner sein. Der Mist, mit dem sich andere dann herumschlagen müssen, wird nicht mehr seiner sein.
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