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»Re-Watching«: Das warme Gefühl suchen
Bei all den neuen Serien und Filmen wächst der Bedarf nach Altbekanntem. Das Verlangen nach Geborgenheit vor dem Bildschirm heißt »Re-Watching«
Die Welt da draußen, sie ist unübersichtlich, kompliziert, verworren. Hunderte von Katastrophen, Krisen, Konflikten gleichzeitig. Dazu Abermillionen privater Ängste, Sorgen und Nöte, denen man wenigstens auf dem Sofa kurz mal entkommen möchte. Also: Rechner an, Serie an, fertig ist die kleine Flucht ins Fiktive, Eskapismus genannt. Wäre es doch so einfach, denn es gibt so viel!
Allein Netflix, mit Abstand das meistgestreamte Portal, hat voriges Jahr 165 neue plus 81 Anschlussstaffeln alter Serien veröffentlicht. Gut das Doppelte von Prime, Disney, Apple und deutschen Diensten wie RTL+ und Joyn zusammen. Ein Mahlstrom der Neuveröffentlichungen und doch nur ein Aktenschrank unter vielen im Digitalarchiv aller Streamingdienste, seit Netflix vor ziemlich genau 25 Jahren die Flatrate für Video-on-Demand erfunden hat.
Was wie ein Paradies unbegrenzter Auswahlmöglichkeiten klingt, sorgt da zusehends für Überforderung. Sie wiederum führt zu Fluchtreflexen ins Gestern. Und wie üblich in der Popkultur gibt es dafür längst einen Fachbegriff: »Re-Watch«. So heißt der Trend, alte beziehungsweise gebrauchte Sendungen abermals anzusehen, statt frische zu probieren. Das, meint die Psychologie-Professorin Sabrina Romanoff von der New Yorker Yeshiva-Universität, »kann uns vor dem Stress der unendlichen Auswahl und daraus resultierendem Energieverlust bewahren«.
Das Wiedersehen im Wortsinn wirkt jedoch nicht nur gegen Erstausstrahlungsstress und ist auch deshalb Gegenstand wissenschaftlicher Studien. Der Hauptgrund, es nochmals (und nochmals und nochmals) mit der alten Serienliebe zu versuchen: Gefühle! Wir rewatchen, was uns beim ersten, zweiten, fünften Seriengenuss bereits gefallen, beschäftigt, ergriffen hat. Woraus der zweite Hauptantrieb privater Wiederaufführungen resultiert: Nostalgie.
Von A wie »A-Team« bis Z wie »Zum Blauen Bock« funktioniert der Zeitsprung je nach Alterskohorte und Lebensabschnitt mit fast jedem TV-Format jener Tage. Dass die betagten Werke wie mancher überschätzte »Tatort« der Siebziger oft schlecht gealtert sind – egal. Was Geschichtsschwelger, Gegenwartsallergiker, Zukunftsskeptiker im Kellergewölbe ihrer audiovisuellen Vergangenheit suchen, ist ja nicht unbedingt Qualität, sondern das warme Gefühl von Geborgenheit im Bann vertrauter Figuren. Zu denen nämlich, weiß der amerikanische Verhaltensforscher Daniel Lieberman, bilden wir »parasoziale Beziehungen« und »erleben Gefühle, die denen ähneln, die wir gegenüber Freunden empfinden«.
Weil wahre Freundschaften am Bildschirm nicht unbedingt leichter zu pflegen sind als davor, schauen treue Serienfans daher öfter mal wieder vorbei. Und obwohl die Beziehungen naturgemäß einseitig bleiben, wächst darin die Illusion eigener Einflussmöglichkeit. Die Psychologie spricht da vom »Conjuring Effect«, der uns etwas vorzaubert. Er gaukelt uns Kontrolle über die Handlung vor, falls wir deren Abläufe kennen. Kein Wunder, dass die heißgeliebten »Gilmore Girls« mit 38 Milliarden Sendeminuten in den USA auf Platz 9 der meistgesehenen Serien 2023 stand, obwohl das Serienfinale schon 2007 lief.
Drei Jahre nach dem Ende jener Sitcom übrigens, die ein Ranking vom Mediendienstleister Bloomberg hinter »Grey’s Anatomy« platziert und das innige Verhältnis zum Publikum sogar im Titel hat: »Friends«. Muss Fernsehfreundschaft schön sein! Wobei es auch selbstironische Ursachen fürs Re-Watching gibt. Nicht wenige schauen ja auch deshalb gelegentlich in die 1758 Episoden der 2020 abgesägten »Lindenstraße« bei ARD Plus rein, um über das bieder-spröde Schultheater anno 1985 zu schmunzeln. Wiedersehen macht aber nicht nur Freude.
In Zeiten horizontaler Serienkomplexe sind Denk- und Handlungsfaulheit ebenfalls Pfade ins Altbekannte. Nächste Ausfahrt Pragmatismus. Etwa zum Ausbügeln zerknitterter Stoffkenntnisse. Weil sich die Fortsetzung von »House of the Dragon« dramaturgisch mehr verknotet als sämtliche Fäden aller Telenovelas zusammen, sind drei Dutzend Kabalen und Kriege nur nachvollziehbar, wenn man die letzte Folge der ersten Staffel erneut sieht. Oder wer hat 2015 begriffen, was der »Many-faced God« in »Game of Thrones« macht und wie »Sherlock« drei Jahre zuvor den Reichenbachfall gelöst hat?
Wiedersehen macht halt nicht nur Freude. Manchmal, das legen Abrufe alter Viren-Thriller wie »Containment« oder »Sløborn« in der Covid-Pandemie nahe, frischt Re-Watch überholtes Halbwissen auf. Fremdsprachenunkundige trauen sich überdies erst nach der synchronisierten Fassung ans Original mit Untertiteln. Und wenn die Reise nach Kalifornien ansteht, rufen eventuell selbst Spätgeborene die »Straßen von San Francisco« bei Free Vee ab, um 50 Jahre Stadtveränderung zu spüren. Gratis übrigens.
Womit man bei der Verfügbarkeit wäre. Früher nämlich gab es nur zwei reguläre Routen zur individuellen Filmgeschichte. Die kostspielige führte vom analogen ins digitale Kaufhaus, um staffelweise DVD-Boxen zu kaufen. Die kostenlose ist bislang auf »Re-Run« genannte Wiederholungen im Regelprogramm angewiesen, wo Pro Sieben halbe Tage mit »How I Met Your Mother« füllt, während die 349. Exhumierung von »Sissi« zu den Fernsehritualen an Weihnachten gehört wie einst Karpfen blau. Wer nicht so lang mit der nostalgischen Realitätsflucht warten und per »Traumschiff« zurück in die Achtziger dampfen will, wird von der ZDF-Mediathek mit 25 Kreuzfahrten der ersten 14 Jahre bedient. Und wem eher nach dem DDR-Vorbild »Zur See« ist, findet es bei Amazon, Apple oder Magenta.
Wobei Re-Watching gar keiner so großen Zeitabstände bedarf. ARD und ZDF stellen derzeit zahlreiche Partien der Fußball-EM online. »Re-Life« heißen die Konservenspiele in voller Länge. Und wer keinen Fußball mag, kann sich als Aufwärmprogramm zur Fortsetzung von »Beverly Hills Cop« ja die ersten drei Teile bei Netflix ansehen. Individuelle Gründe dafür gibt es viele. Die meisten sind nostalgischer Art.
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