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- Nationalismus bei der Fußball-EM
Pyro, Pathos, Patrioten: Wie nationalistisch ist die Euro 2024?
Die deutsche Mannschaft ist ausgeschieden, die wolfsgrüßenden Türken auch. Wie nationalistisch ist die Fußball-EM?
Zumindest am Himmel über Berlin herrscht Ruhe: Das befürchtete Gewitter ist ausgeblieben, stattdessen wirft am Samstagabend die Sonne lange Schatten auf den Filzrasen am Brandenburger Tor. Die Luft riecht nach Sommerregen und holländischer Pyrotechnik, als die Übertragung jenes Viertelfinalspiels beginnt, das nach dem Wolfsgruß-Skandal zum Gradmesser für Nationalismus bei dieser Fußball-EM in Deutschland geworden worden ist.
Niederlande gegen Türkei: 70 000 Menschen auf der Straße des 17. Juni, die schon bald die Hände hochreißen und lachen: 1:0 für die Türkei! Bierbecher fliegen, eine Nebelkerze wird gezündet, Halbmond-Flaggen werden geschwenkt. Und? Und? Und? Ja, leider, auch hier in der Uefa-Fanzone ist er präsent, zwar nicht zehntausendfach wie im Olympiastadion, doch vereinzelt sieht man ihn: den Wolfsgruß der türkischen Rechtsextremisten. Männer und auch Frauen legen Mittel- und Ringfinger auf den Daumen und spreizen dazu Zeige- und kleinen Finger ab: das unheilvolle Zeichen der Grauen Wölfe.
Eine, die den Gruß gerade gezeigt hat, ist Hatice Demir. Warum tut sie das? »Ich muss ehrlich zugeben, ich habe dieses Symbol bislang in meinem Leben nie benutzt, aber ich habe es heute aus Protest auch gemacht.« Der 32-Jährigen geht es dabei nicht nur um die Strafe für den türkischen Verteidiger Merih Demiral, der wegen seines Wolfsgruß-Torjubels im Achtelfinale von der Uefa für zwei Spiele gesperrt wurde. Für die Ingenieurin, die extra aus Bayern angereist ist, um das Viertelfinale in Berlin mit ihrer Familie zu verfolgen, gehört der Gruß nicht nur den rechtsextremen Grauen Wölfen. »Dieses Tier symbolisiert die Türken.« Über den deutschen Adler beschwere sich ja auch niemand. Wo denn das wirkliche Problem sei?
UÇK und Identitäre im Stadion
Die Viertelfinalrunde ist absolviert, nur noch drei Spiele, dann ist auch die EM-Endrunde 2024 Geschichte. Ein guter Zeitpunkt, um einen genaueren Blick zu werfen: Waren der unsägliche Wolfsgruß des Merih Demiral, seine Nachahmer am Samstag und die allgemeine Erregung nun symptomatisch für dieses Turnier? Ist diese Europameisterschaft eine Fortsetzung des deutschlandfahnenlastigen WM-Sommermärchens 2006 unter den Vorzeichen des Rechtsrucks, der den ganzen Kontinent anno 2024 erfasst hat? Oder hat der slowenische Uefa-Präsident Aleksander Čeferin recht, der meinte, das Fußballspektakel in Deutschland sei »endlich wieder ein klassisches Fußballturnier«?
Für die Gastgeber ist es bisher ganz ordentlich gelaufen. Der allgemeine Rechtsruck ist im Umfeld der Nationalmannschaft kaum zu erkennen, im Gegenteil, die DFB-Elf hat im Fußball eine stattliche Brandmauer gen rechts errichtet. Der AfD-Europawahl-Spitzenkandidat Maximilian Krah nannte die deutsche Nationalmannschaft jüngst »Fremdenlegion« und »politisch korrekte Söldnertruppe«. Thüringens Landesvorsitzender Björn Höcke schrieb in der »Weltwoche«, er könne sich »nicht mehr mit unserer Nationalmannschaft identifizieren«. Dem Fußball quelle »Regenbogen-Ideologie aus jeder Pore«, dichtet er in dem Schweizer Schmutzblättchen.
Womöglich ist diese Verachtung der rechten Vordenker ein Grund dafür, dass kaum von Entgleisungen deutscher Fans zu hören war. Die Negativschlagzeilen blieben anderen vorbehalten. Hunderttausende Fußballanhänger reisten in den vergangenen vier Wochen zwischen Hamburg, Stuttgart, Leipzig und Köln umher, darunter fielen einige unangenehm auf: Albaner und Kroaten verbrüderten sich beim Gruppenspiel im Hamburger Gruppenspiel zu gemeinsamen Ubi-Srbina-Rufen (Tötet Serben!). Albaner schwenkten UÇK-Flaggen. Beim Wettstreit der Nationen fühlen sich die Nationalisten inmitten der Fanmassen pudelwohl. Serben hängten in München Fahnen auf, auf denen die Umrisse des unabhängigen Kosovo als serbisch markiert waren. Im österreichischen Fanblock im Berliner Olympiastadion taucht plötzlich ein Banner mit der Aufschrift »Defend Europe« auf, einem Slogan der rechtsextremen Identitären.
EM-Turniere sind die Zeit der Gesten und Symbole, doch nicht alle kommen so ungestraft davon wie die Fans: Stürmer Mirlind Daku aus der albanischen Mannschaft grölte nationalistische Lieder durchs Megafon und wurde dafür zwei Spiele gesperrt; dem kosovarischer Fernsehreporter Arlind Sadiku wurde die Akkreditierung entzogen, nachdem er bei einem Serbien-Spiel die Doppeladler-Geste der Albaner gezeigt hatte. Die Uefa, die sich Respekt und Toleranz auf ihre Farben geschrieben hat, greift relativ beherzt durch, wie sich auch nach dem Wolfsgruß zeigte.
Modeerscheinung Wolfsgruß
Halbzeit im Berliner Viertelfinale: Party auf der Fanmeile! Ausgelassen hüpfen die Anhänger beider Mannschaften hin und her: »Nach links, nach rechts!«, die Choreo, die die Oranjes schon in Hamburg und anderswo vollführt haben. Etwas abseits der Menge steht Ali Özdemir mit seiner Frau, Arm in Arm. Wie hält er es mit dem Wolfsgruß? Der 55-Jährige seufzt. Die ganze Diskussion um den Wolfsgruß sei viel zu überhitzt geführt worden: »Wenn man das so hochspielt in den Medien, dann wird das auch eine Modeerscheinung.« Auch er glaube, dass viele den Wolfsgruß eher aus Stolz auf die Türkei zeigen und nicht wegen seiner rechtsextremen Bedeutung.
Doch ganz so leicht ist es nicht: Der Wolf gehört zum türkischen Gründungsmythos in der Spätantike. Damit ist das Tiersymbol deutlich älter als die rechtsextremen Grauen Wölfe, die den Gruß seit Mitte des 20. Jahrhunderts für sich vereinnahmen. Schon während des Ersten Weltkrieges bildet dieser Gründungsmythos aber auch die ideologische Grundlage für Überlegenheitsdenken und nicht zuletzt für den Völkermord an den Armenier*innen. Als positives Symbol für den türkischen Nationalstolz ist der Wolfsgruß damit aus mehreren Gründen fragwürdig.
Für Türkei-Fan Ali Özdemir steht fest, dass man den Gruß nicht verwendet, aus Anstand. Die Debatte um Demiral indes fand er überzogen. Sie habe vor allem jüngeren Menschen einen Grund für dieses Handzeichen geliefert, findet er. Und: »Vielleicht hat Demiral nicht mal richtig gewusst, welche Geste er da zeigt.«
Verbunden durch Fußball
Freitagabend in Stuttgart, Endstation für das deutsche Team. In den Katakomben des Stadions steht der Mannschaftsbus zur letzten Fahrt bereit. Für das DFB-Team geht es nach der Viertelfinalniederlage gegen Spanien zurück ins Camp nach Herzogenaurach. »Germany is united by Football« steht auf dem blauen Bus. »Verbunden durch Fußball« ist auch jedes andere Teilnehmerland – es ist das offizielle Motto dieser Europameisterschaft, erdacht von Marketingstrategen der Uefa.
Verbundenheit, wirklich? Als Julian Nagelsmann nur ein paar Schritte vom Stellplatz des Busses entfernt von »Tristesse« erzählt, meint er nicht das gerade erlittene EM-Aus nach dramatischen 120 Minuten. Der Bundestrainer spricht über Deutschland, das Leben und die Gesellschaft, in der »jeder noch individueller als der Nachbar« sein wolle. Wie anders sei es da doch um sein Team bestellt: Gemeinschaftlich hätten sie es geschafft, »das Land aufzuwecken«.
Nagelsmann ist bewegt. Ein bisschen Pathos im Moment des Ausscheidens muss erlaubt sein. Die Welle der Begeisterung für die DFB-Elf war in diesen Turniertagen immens, das Viertelfinale verfolgten 26 Millionen Fernsehzuschauer, ein Marktanteil von 80,9 Prozent. Nagelsmanns Nationalmannschaft ist beliebt.
Einen Tag später sitzt der Bundestrainer erneut in einer Pressekonferenz, die letzte für ihn bei diesem Turnier. Am Mikro kämpft er mit den Tränen, noch immer ist er berührt von der »Symbiose zwischen Fans und einer Mannschaft«. »Natürlich gibt es deutlich wichtigere Themen im Leben als Fußball«, sagt er auch. Aber der weltweit beliebteste Sport bietet eben eine große Bühne. Auch diese EM wurde missbraucht – von Menschen, die andere diskriminieren, rassistisch anfeinden. »Ja, wir haben Probleme im Land«, meint Nagelsmann. Sportlich sei es notwendig, »in Lösungen zu denken«. Und das wünsche er sich auch für die Gesellschaft: »Nicht immer sofort das Negative sehen, sondern zusammen für eine bessere Zukunft arbeiten!«
Ziemlich eindrucksvoll wurde die große EM-Bühne von den vielen Menschen genutzt, die nicht ausgrenzen, sondern gemeinsam ein friedliches Fußballfest feiern wollten. Im Stuttgarter Stadion muss kein Spanier Angst vor der schwarz-rot-goldenen Masse haben – bejubelt wird das eigene Team, respektiert der siegreiche Gegner. Dieses Bild war so auch in anderen Stadien und vielen Städten zu sehen. Überall dort waren die Menschen verbunden durch den Fußball. Zugegeben, dieser Sport ist ein schwieriges Spielfeld, weil ihn viele, oft unliebsam politisch motivierte Akteure für ihre Zwecke nutzen. Wenn man sich aber nicht scheut, dieses Feld positiv zu besetzen, kann Gutes entstehen. Nagelsmann bilanziert: »Gemeinsam sind wir stärker!«
Aus für den Ruhestörer
Abpfiff in der Fanzone am Brandenburger Tor: Am Ende dieses denkwürdigen Viertelfinalabends jubeln nun nur noch die Oranje-Fans. Im Berliner Olympiastadion haben ihre Lieblinge das Spiel gedreht, 2:1 für die Niederlande. Auf der Leinwand weint der türkische Kapitän Hakan Çalhanoğlu, am Tiergarten drängen sich die Halbmond-Fans an den Getränkeständen: Drei Euro Becherpfand zurückholen, dann schnell weg.
Es ist dunkel geworden. Wolfsgrüße waren auf der Straße des 17. Juni kaum noch zu sehen, kein Wunder, es gab ja keine türkischen Tore mehr. Auch Hatice Demir will sich auf den Heimweg machen. Sie hat den Wolfskopf nicht mehr gezeigt. Den größten Aufreger gab’s abseits der Videoleinwand, ein kurzes Gerangel zwischen türkischen und niederländischen Fans nach dem 2:1. Doch die Polizisten sind schnell dazwischengegangen: Auch das »Nonplusultra-Hochrisikospiel« der EM ist größtenteils friedlich über die Bühne gegangen.
Für den weiteren Turnierverlauf bedeutet das türkische Aus eine Beruhigung: Statt Nationalismus als Dauerthema wird womöglich wieder mehr über Fußball geredet. Hatice Demir lächelt schon wieder: »Mein 2:1-Tipp ist aufgegangen – nur leider für die falsche Mannschaft!« scherzt sie.
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