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Verkehrswende anders verkaufen
Kinderschutz und Lebensqualität müssen im Mittelpunkt stehen, sagt »Fahrradprofessor« Marco te Brömmelstroet
»Ich bin davon überzeugt, dass in Berlin als nächstes großes Volksbegehren ein Kinderentscheid kommen muss«, sagt Marco te Brömmelstroet. Er ist Professor für Zukunfts-Mobilitäten an der Universität Amsterdam. Er ist auch als »Fietsprofessor« bekannt, zu Deutsch »Fahrradprofessor«.
Die Idee eines Kinderentscheids, um die Verkehrswende voranzubringen, sei dem Professor im Gespräch mit dem Multi-Aktivisten Heinrich Strößenreuther gekommen. Dieser ist ob seiner Penetranz und auch unduldsamen Art nicht nur beliebt in Berlin, aber er hat Erfolge. Das von ihm 2016 mitinitiierte Fahrrad-Volksbegehren mündete schließlich 2018 im Mobilitätsgesetz. Nun versucht Strößenreuther, mit einem Baumentscheid mehr Grün und weniger Versiegelung zu forcieren.
An der Verkehrswende führt für te Brömmelstroet kein Weg vorbei. Doch die Widerstände, dem Auto den wertvollen städtischen Raum zu entziehen, sind groß. Nicht zuletzt dürfte die Diskussion darüber dazu beigetragen haben, dass nun mit Kai Wegner ein Regierender Bürgermeister von der CDU im Roten Rathaus sitzt. »Berlin, lass dir das Auto nicht verbieten«, plakatierte seine Partei im Wahlkampf. Eine »Miteinander«-Rhetorik prägt nun das verkehrspolitische Handeln, in der das Auto nicht als Schmuddelkind des Verkehrs gebrandmarkt werden soll.
Keine Verkehrsplanungssprache
»Wir müssen die Sache also anders verkaufen«, sagt te Brömmelstroet. Nicht in einer Verkehrsplanungssprache, dass man dieses sperre und jenes öffne. »Stattdessen sollten wir lieber sagen, dass wir die Stadt zum Beispiel kinderfreundlicher machen wollen. Ich denke, da würden 80 bis 90 Prozent der Berlinerinnen und Berliner mitgehen«, ist er überzeugt.
»Und dann muss natürlich auch etwas passieren«, sagt der Mobilitätsexperte. In Paris sei das gelungen, als die gewählte Bürgermeisterin gesagt habe: »Ich will die Stadt reparieren. Ich will sie lebenswerter machen. Ich will die Probleme im sozialen Zusammenhalt lösen. Ich will gegen die Einsamkeit vieler Menschen kämpfen.«
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»Sie wurde wiedergewählt und hatte das Mandat, in den vergangenen zwei Jahren 200 autofreie Schulstraßen zu bauen und in wenigen Jahren die unglaubliche Zahl von 170 000 Bäumen zu pflanzen«, berichtet der Professor sichtlich angetan im Gespräch mit »nd«. Und das funktioniere in Paris, »weil es in der Diskussion nicht mehr um die Verkehrswende, nicht um diesen Kulturkampf, nicht gegen Autos geht«.
In Berlin wird in der politischen Auseinandersetzung nicht nur in der Verkehrspolitik der Gegensatz zwischen Innenstadt und Außenbezirken betont. Dass die Pariser Stadtregierung den politischen Vorteil habe, sich nur auf eine im Berlin-Vergleich innerstädtische Bevölkerung stützen zu müssen, lässt te Brömmelstroet trotzdem nicht gelten.
»In beiden Welten haben die Menschen Kinder, die die gleichen Probleme haben. Man kann also eine gemeinsame Basis finden«, sagt er. Der Fokus müsse dabei auf sozialer Gerechtigkeit liegen und man müsse auch anerkennen, dass auch die derzeitige Autoabhängigkeit von sozialer Gerechtigkeit weit entfernt ist.
»Wir dürfen uns nicht so stark auf jene konzentrieren, die bereits progressiv sind. Wenn wir auf eine andere Art über das Problem sprechen, werden wir feststellen, dass es breite gesellschaftliche Unterstützung für das Anliegen gibt«, unterstreicht der Professor. Weil man an den »alten Debattenformen« festhalte, geschehe etwas, das als »pluralistische Ignoranz« beschrieben werde. Viele Menschen seien aber grundsätzlich für progressive Veränderung, wenn man sie frage.
Mehrheit ist für Veränderung
»Aber sie glauben, dass sie eine Minderheit sind, wenn sie für weniger Autos rund um die Schule ihrer Kinder sind. Sie glauben, dass nur wenige so denken und wollen nicht die nervige Mutter oder der überbesorgte Vater sein«, führt der Professor aus. »Wir wissen aber, dass 80 Prozent aller Eltern so denken.«
Er stützt seine Ansicht nicht nur auf das aktuelle Beispiel Paris, sondern auch auf das historische Beispiel der Niederlande der 1970er Jahre. Damals habe es begonnen mit Protesten der Bewegung für den »Stopp des Kindermords auf den Straßen«, es sei aber auch um bezahlbares Wohnen gegangen. »All das kam zusammen. Und das zeigte, dass eine große Mehrheit es anders wollte«, sagt er.
Man müsse sich immer vor Augen halten: »Der Status quo ist nicht gottgegeben, sondern er wurde entworfen. Wir können den Entwurf ändern, ohne dass die Welt auseinanderfällt.«
»Wir dürfen uns nicht so stark auf jene konzentrieren, die bereits progressiv sind.«
Marco te Brömmelstroet
Professor für Zukunfts-Mobilitäten
Von Urwald und »Urstraße«
Das ist auch ein Thema seines Vortrags, zu dem er Ende Juni als Sprecher auf der Sommerkonferenz des Citylabs Berlin eingeladen war. Te Brömmelstroet vergleicht auf der Bühne den Urwald, der im Rahmen der Forstwirtschaft zur Holzplantage umgeformt wurde, mit der »Urstraße«, die mit dem Siegeszug des Autos vor allem als Verkehrsweg definiert worden ist, um schnell von A nach B zu kommen. Und erklärt, dass die ersten Verkehrsplaner ursprünglich aus dem Wasserbau kamen, woher die Dogmen des ungestörten Fließens stammten. Er macht auch Werbung für sein Buch, das im September in deutscher Übersetzung erscheinen soll. »Gesellschaft in Bewegung: Wie wir unsere Städte lebenswerter machen können«, so der Titel.
»Es gibt diese große Angst vor Veränderung. Aber wir brauchen den Mut und die Neugier, an den Gegebenheiten herumzuspielen und zu sehen, was passiert«, fordert er. »Was wird passieren, wenn Kinder jeden Morgen das Recht und die tatsächliche Möglichkeit haben, morgens selbstständig zur Schule zu gehen?«, will er wissen.
Auch Deutschland habe die UN-Kinderrechtskonvention unterschrieben, in der dieses Recht enthalten sei, wir seien also rechtlich verpflichtet, unseren Kindern wesentlich bessere Städte zu bieten als sie es derzeit sind. »Ich denke, dass dieses Recht in mehreren Ländern bald ein Fall für die Gerichte sein wird«, so der Professor.
Dann könne man auch verbieten, einfach überall am Straßenrand zu parken, weil das unsicher für Kinder sei, so einer seiner Gedanken zu den möglichen Konsequenzen. Schließlich könnten sie nicht über geparkte Autos blicken, was oft zu Unfällen führt. »Berlin könnte die erste Metropole werden, die sagt: Wir sind die erste Millionenstadt, die für Kinder funktioniert«, so te Brömmelstroets Vision.
Kein Fan von Fahrrad-Autobahnen
Auch wenn man das von einem holländischen »Fahrradprofessor« erwarten könnte, ist er kein Verfechter von Fahrradautobahnen. Er macht sich eher lustig über die Visionen einer Hochleistungsinfrastruktur für Zweiräder.
»Das Problem ist nicht nur der Glaube an technologische Lösungen, sondern auch die menschliche Tendenz, Probleme zu lösen, indem noch etwas dazu gebaut wird, anstatt etwas abzubauen«, sagt er. Die heutige Verkehrsinfrastruktur sei »innerhalb sehr kurzer Zeit mit sehr großem Materialeinsatz entstanden – Asphalt, Beton und Stahl«, ein großer Teil davon sei am Ende seiner Lebensdauer.
Es werde also immer schwerer werden, die bestehende Infrastruktur am Laufen zu halten. Einerseits, weil die Rohstoffe langsam ausgingen. »Andererseits, weil viele negative Auswirkungen, zum Beispiel auf die Umwelt, externalisiert, also nicht dem Verursacher angelastet worden sind.« Dadurch hätten die Auswirkungen über lange Zeit ignoriert werden können. Der Autoverkehr steche dabei besonders heraus, weil er sehr ineffizient bei Materialeinsatz und Energieverbrauch sei.
»Der Gedanke, dies zu lösen, indem man immer noch mehr dazu baut – Fahrrad-Autobahnen oder neue Technologien wie die Röhrenbahn Hyperloop oder Magnetschwebebahnen – ist absurd. Rückbau ist der einzige Weg, wie wir die Probleme lösen können«, sagt te Brömmelstroet.
Er nennt das holländische Groningen als Beispiel für das Umsteuern. »Wir haben für die Stadt neue Richtlinien für Straßen entworfen. Bisher haben sie nur eine verkehrstechnische Richtlinie. Die ist total radverkehrsfreundlich, viele finden sie deswegen cool. Aber es geht eben nur um Verkehr. In Berlin sieht das ja mit dem Mobilitätsgesetz und Verordnungen nicht anders aus.«
Wie einfach es gehe, zeigten in Berlin gerade die Fanzonen zur EM. »Auf einmal ist die Mitte der Stadt autofrei.« Warum müsse also neue Infrastruktur hinzugefügt werden, wenn ein paar Poller reichen? Die Herzen dafür zu gewinnen, sei allerdings schwierig, »denn natürlich ist die politische Aussage viel sexyer, eine neue Fahrrad-Autobahn zu bauen, als zu sagen, dass wir eine Auto-Fahrspur wegnehmen, um sie für andere Zwecke zu nutzen«.
Den Kollaps verhindern
Das derzeitige System könne nicht aufrechterhalten werden. Entweder man sehe dieser Tatsache gemeinsam ins Auge oder man werde sich von Zusammenbruch zu Zusammenbruch hangeln. »Und das erwarte nicht nur ich im wörtlichen Sinne in Deutschland, wenn man den Zustand der Infrastruktur betrachtet«, sagt te Brömmelstroet. Nicht nur in Berlin leiden die Fahrgäste unter dem riesigen Instandhaltungsrückstau und den daraus resultierenden Verspätungen und Ausfällen bei Bahnen und Bussen, alle Verkehrsteilnehmer unter maroden Brücken. Ganz Deutschland blamiert sich zur Fußball-EM international mit seiner maroden Infrastruktur.
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