Erfolgreiche Ausdauerläufer: Die Leichtfüßigen aus dem Gebirge

Die Rarámuri, eine indigene Minderheit im Norden Mexikos, sind als preisgekrönte Ausdauerläufer bekannt und beliebt

  • Marco Antonio López und Kathrin Zeiske
  • Lesedauer: 9 Min.
An der Bergkette über der Stadt Ciudad Juárez trainiert Verónica Palma.
An der Bergkette über der Stadt Ciudad Juárez trainiert Verónica Palma.

Am Morgen des 31. März 2024 liefen sechs Rarámuri-Frauen nach Las Vegas, Nevada. Sie rannten mehr als zwei Tage lang ohne Unterbrechung, vom Santa Monica Pier in Los Angeles, Kalifornien, durch die Mojave-Wüste bis zum berühmten »Welcome to Las Vegas«-Schild. In 52 Stunden und 22 Minuten legten sie im Staffellauf rund 540 Kilometer zurück. An diesen Tagen musste jede etwa 90 Kilometer oder etwa achteinhalb Stunden laufen, also mehr als zwei Marathons bewältigen. Sie lösten sich dabei gegenseitig ab, um abwechselnd in einem Kleinbus essen und ausruhen zu können, während die jeweilige Läuferin mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von zehn Kilometern pro Stunde weiter vorankam.

77 Staffelteams nahmen am »Speed ​​​​Project 2024« teil. Das Team der sechs Rarámuri-Frauen hatte sich den Namen »Ra Ra Ra« gegeben und bestand aus Verónica Palma, Luz Ester Nava, Yulisa Fuentes, Rosa Ángela Parra, María Isidora Rodríguez und Argelia Orpinel: alle aus dem mexikanischen Bundesstaat Chihuahua. Das Team »Ra Ra Ra« belegte in der Gesamttabelle den 61. Platz. Allerdings erreichten sie in ihrer Kategorie den dritten Platz; denn nur fünf Teams bestanden ausschließlich aus Frauen. Obwohl sie nicht das schnellste Team waren, so waren sie mit Abstand das beliebteste. Als sie in Las Vegas ankamen, verbreiteten sich die Videos und Fotos der laufenden Frauen auf allen Plattformen und in sozialen Netzwerken. Medien aus aller Welt titelten: Erstes Frauen-Rarámuri-Team beendet erfolgreich das Speed-​​Projekt.

In den letzten Jahren sind die Rarámuri-Läuferinnen ins Licht der internationalen Öffentlichkeit gerückt. Erzählt wird dabei meistens dieselbe Geschichte: dass sie in Sandalen, den Huaraches, laufen und in weiten Blusen und stoffreichen langen Röcken, ihrer traditionellen Kleidung. Dass sie stolze, starke Frauen sind und indigene Gemeinschaften des kargen Nordens über die Landesgrenzen Mexikos hinaus bekannt machen. Doch ihre Lebensrealität ist oftmals sehr viel komplexer und beinhaltet einen Spagat zwischen dem Leben in geschlossenen abgelegenen Gemeinschaften in der Sierra und einem urbanen migrantischen Dasein.

Widerstandsfähig statt schnell

An der Bergkette über der Stadt Ciudad Juárez geht Verónica Palma in ihren Laufschuhen trainieren.
An der Bergkette über der Stadt Ciudad Juárez geht Verónica Palma in ihren Laufschuhen trainieren.

»Ich wurde am 10. Oktober 1989 in Sateví geboren«, erzählt die Läuferin Verónica Palma. In einer Siedlung von etwa 30 Familien, die zur Gemeinde Guachochi in der Sierra Madre Occidental im Südwesten des Bundesstaates Chihuahua gehört. Sie ist Teil der indigenen Gemeinschaft der Rarámuri oder auch Ralámuli, denn in ihrer Sprache existiert nur ein einziger Konsonant für »R« und »L«.

Die spanischen Konquistadoren erfanden, wie so oft, einen eigenen Namen für die Bewohner*innen des Camino Real südlich von El Paso del Norte, den heutigen Zwillingsstädten El Paso, Texas, und Ciudad Juárez, Chihuahua, und nannten sie »Tarahumara«. So heißt auch heute noch das Gebirge, in das die Gemeinschaften schließlich vor der Invasion der Eroberer und ihrer Missionare flohen. Tatsächlich bedeutet der Eigenname Rarámuri »die Leichtfüßigen«. Weniger bekannt sind daneben die musischen und handwerklichen Fähigkeiten der indigenen Minderheit, ebenso wie das Know-how einer Subsistenzwirtschaft in einer äußerst kargen Bergwelt.

Sie erinnere sich, wie sie als Kind in der Sierra an den Ariweta-Spielen teilgenommen hat, sagt Verónica. Bei diesen schlagen die Frauen mit einem Stock einen Reifen vor sich her und laufen bis zu 60 Kilometer auf einem Rundkurs. Traditionen wie diese haben den Rarámuri-Läufer*innen den Ruf von geborenen Athlet*innen mit übermenschlichen Kräften oder gar einer besonderen Genetik eingebracht. Denn im Gegensatz zu ihren Konkurrent*innen bei internationalen Marathonläufen haben sie keine streng getakteten Trainingspläne und Diäten, mit einer wöchentlich festgelegten Kilometer- und Kalorienanzahl, keine ausgeklügelte Balance zwischen Kraft-, Schnelligkeits-, Widerstands-, Ausdauer- und Höhentraining.

Rarámuri-Läufer*innenhaben den Rufvon geborenen Athlet*innenmit übermenschlichen Kräften.

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Die Rarámuri sind nicht die schnellsten Läufer*innen, denn Schnelligkeit ist nicht ihr Ziel. Wenn man in der Sierra eines lernen kann, dann ist es in jeglichem Sinne des Wortes, widerständig zu sein. Ihre Vorbereitung auf einen Wettkampf ist nichts anderes als ihr ganz normaler Alltag, der sich an eine herausfordernde Berglandschaft anpasst. Im Winter sinken die Temperaturen auf bis zu 2500 Höhenmetern auf minus 20 Grad, der Sommer im stark zerklüfteten Gelände zeichnet sich durch anhaltende Hitzeperioden und damit einhergehende Dürren aus. Hier ersetzt die Natur jeden Leichtathletik-Coach, und im Laufe der Zeit ist deutlich zu erkennen, wer die besten und widerstandsfähigsten Läufer*innen sind. Schon als Kinder müssen die Rarámuri lange Strecken zur Schule zurücklegen – als Erwachsene in größere Ansiedlungen, um ausgewählte Lebensmittel zu kaufen.

Laufen sichert in den Gemeinschaften zunächst das Überleben, ist aber auch essenzieller Bestandteil von Kultur, Kosmovision, Religion und Freizeitvergnügen. Laufen als Wettbewerb ist dabei stets mit einem Gewinn verbunden, also mit einem Ertrag als Gegenleistung für den Sieg. Bei Läufen, die Frauen und Männer in der Gemeinde bestreiten, gibt es in der Regel einen Preis. Geld, Essen oder andere Güter werden gesetzt, die zwischen den Wettenden und den Gewinner*innen verteilt werden und so ein Einkommen für ihre Familien generieren.

Es gibt Rennen über kurze und lange Strecken, bei denen die besten Läufer*innen jeder Gemeinde gegeneinander antreten. Die langen Rennen finden ein- bis zweimal im Jahr statt; hier werden die höchsten Einsätze getätigt. Am Ende werden Geld, Waren, Lebensmittel und Tiere unter der Gewinnergemeinschaft aufgeteilt. Fast täglich finden kleine Läufe zwischen Angehörigen derselben Gemeinde statt, und es wird in kleinerem Umfang gewettet.

Der harte Asphalt von Ciudad Juárez

Doch Verónica Palma verbrachte nicht viel Zeit damit, in der Sierra zu laufen. »Ich war noch ein Teenager, als ich beschloss, mein Dorf zu verlassen, um einen Platz an einem anderen Ort als meinem eigenen zu suchen.« Verónica ließ sich vor mehr als 20 Jahren in Ciudad Juárez an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten nieder, in einem Viertel namens Tarahumara, das im Westen der Stadt direkt am Fuße der Sierra de Juárez liegt – eine eigene urbane Rarámuri-Gemeinde, die im Kreis um eine Kirche aus Lehm gebaut ist, mit bunten Flaschen in den Wänden als Lichtquellen.

Verónica begann zunächst als Hausangestellte zu arbeiten und später als Fabrikangestellte in der Maquila-Industrie, der Hauptbeschäftigungsquelle in dieser Industriemetropole, in der fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung von 1,5 Millionen Menschen in Arbeit steht.

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Auch wenn die Arbeit in der Montageindustrie eine gewisse finanzielle Stabilität gibt, stellen die rund 300 Fabriken internationaler Unternehmen an der Grenze immer noch einen Auswuchs des Weltmarktes dar – oder aber das Herz, das seine große Maschinerie am Leben erhält. In der weltweiten Gewinnpyramide bilden die Fabrikangestellten den Bodensatz; ihre Arbeitsbedingungen müssen als ausbeuterisch bezeichnet werden: Lange Schichten in der Produktionslinie hoch technologisierter Güter garantieren kein angemessenes Gehalt, das die Grundbedürfnisse einer Familie deckt.

In Verónicas Kopf existierte längst die Idee, an Rennen teilzunehmen, um ihr Einkommen zu vervollständigen, als sie vom Athletischen Laufparcours erfuhr, bei dem das ganze Jahr über Zehn-Kilometer-Rennen mit Preisen für die ersten Plätze durchgeführt werden. »Da begann ich wieder zu laufen. Allerdings musste ich die Erfahrung machen, wie schmerzhaft das Laufen mit Huaraches auf der Straße ist.« Also besorgte sie sich ein Paar Turnschuhe unter ihrer traditionellen Kleidung, die sie bei der Fabrikarbeit im Schrank lassen musste. Sie trat einem Leichtathletikverein bei und gehörte bald zu den Besten unter den Frauen, womit sie ein zusätzliches Einkommen für ihre Familie sicher hatte.

Verónica Palmas Profi-Karriere begann somit in Laufschuhen auf dem harten Asphalt von Ciudad Juárez. Daher wunderte sie sich, als sie in den Teilnahmebedingungen des internationalen Marathons der Stadt las, dass »alle Läufer, die am Tag der Veranstaltung in der Kategorie ›Indigene‹ teilnehmen, zwingend in traditioneller Kleidung laufen müssen. Als Schuhwerk sind ausnahmslos Huaraches oder Sandalen erlaubt (keine Laufschuhe).«

In der Kategorie »Indigene« werden insgesamt 30 000 Pesos (umgerechnet etwa 1500 Euro) an die ersten fünf männlichen und die ersten fünf weiblichen Läufer vergeben, die die 42,195 Kilometer lange Strecke zurücklegen. Eine kleine Summe im Vergleich zu den insgesamt 175 000 Pesos (umgerechnet knapp 9000 Euro), die für die ersten drei Plätze der »mestizischen« Frauen und Männer auf dem Siegertreppchen vergeben werden. Und das, obwohl der Lauf in Sandalen über eine so weite Strecke naturgegeben zu tiefen Wunden an den Füßen führt und das Risiko von Verstauchungen größer ist. Die Möglichkeit, in weniger als vier Stunden an ein paar Tausend Euro zu kommen, bleibt einer historisch marginalisierten Gemeinschaft also verschlossen.

Offene Blasen, wund gelaufene Füße

Verónica Palma hat die 42,195 Kilometer des internationalen Marathons von Ciudad Juárez in Huaraches gewonnen, trotz wund gelaufener Füße. Die Marathon-Organisator*innen luden sie ein, Teil eines festen Teams der besten Marathonläufer*innen zu werden, das die Stadt bei anderen Rennen repräsentiert. Dessen Mitglieder erhalten Sportuniformen sowie hochwertige Nike-Alphafly-Laufschuhe im Wert von etwa 8000 Pesos pro Paar (umgerechnet etwa 400 Euro). Im Gegenzug sollen sie nur bei den Rennen, an denen sie teilnehmen, das Logo des Marathons tragen. Nur Verónica Palma bekam keine Laufschuhe.

»Diese Rennen auf Asphalt benachteiligen diejenigen, die in Huaraches laufen«, bestätigt Irma Chávez, eine erfahrene Rarámuri-Läuferin. Der Aufprall auf Beton sei deutlich größer, so die studierte Ingenieurin für Ökologie. »Jeder sollte die Freiheit haben zu entscheiden, wie er oder sie läuft. Wir sind nicht weniger Rarámuri, wenn wir in Laufschuhen rennen.« Trotz Schmerzen, Verletzungen und damit verbundener Nachteile gehen viele Rarámuri das Risiko ein und melden sich für Rennen an, bei denen sie gezwungen sind, Schuhwerk zu tragen, das für diesen Sport eindeutig ungeeignet ist.

Als geschlossene indigene Gemeinschaft sind die Rarámuri offen dafür, an der Seite von »Mestizen« zu laufen, an ihren Rennen teilzunehmen und sie zu ihren eigenen einzuladen. Sie haben gelernt, Spanisch zu sprechen, ohne ihre eigene Sprache zu vergessen. Sie sind in die Städte abgewandert und stehen in ihrer typischen Kleidung im Berufsleben, besuchen Schulen und Universitäten.

Irma Chávez lebt in der Bundeshauptstadt Chihuahua, wenige Stunden von der Sierra Tarahumara entfernt, wo sie als Akademikerin und Sportpromoterin arbeitet. »Beim Caballo Blanco (Ultramarathon, der in der Sierra stattfindet) bin ich 42 Kilometer in Huaraches gelaufen, hatte viele offene Blasen und zahlreiche Verletzungen. Meine Fußsohle ist nicht mehr so ​​hart wie früher«, erzählt Irma Chávez. Sie wohne bereits seit 17 Jahren in der Stadt, ihre Füße sind nicht mehr an das tägliche Laufen in den Bergen gewöhnt. Aber selbst Rarámuri, die in der Sierra leben, beklagen sich in Huaraches über Schmerzen, so Chávez.

Verónica Palma und Irma Chávez werden weiter rennen, auf Asphalt, in Laufschuhen oder Sandalen, sicher aber in ihren langen Röcken. Denn Laufen gehört zu ihrem grundlegenden Verständnis der Welt. Einer Welt, die ihrer Kosmovision zufolge aufhören könnte zu existieren, wenn sie aufhören zu rennen. »Rarámuri-Läuferinnen werden bei professionellen Läufen folklorisiert. Es ist, als ob wir verlangen würden, dass alle ›Mestizen‹ in der typischen Tracht der Mariachi-Musiker*innen laufen sollten. Das ist absurd«, schließt Chávez.

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